swer dirre wunne volget, …

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Dann und wann im Kalligrafie-Unterricht, beim Improvisieren, also wenn man zufällige Wortschnipsel aus dem Hinterkopf verarbeitet, geraten mir schon mal ein paar mittelhochdeutsche Vokabeln aufs Papier. Passiert jetzt häufiger, was daran liegen kann, dass ich nun ein angebliches „beklagenswertes“ Alter erreicht habe – wenn man dem von mir so geschätzten Walther von der Vogelweide glauben mag. Nun ja, eigentlich hält sich der philosophische Frust bei mir in Grenzen, aber einen Grund wird es schon haben, weshalb dessen Verse aus der Erinnerung aufblitzen.

Wer sonst eher gar nichts von mittelalterlicher Lyrik kennt, dann zumindest den minnesingenden Walther, auf dem Steine sitzend, die Hand am Kinn. In dieser legendären Pose hockt er in Würzburg vor der Residenz. Unweit gegenüber, im idyllischen Lusamgärtchen, findet sich sein Grabmal; ein einfacher Steinquader mit Trinkmulden für die Vögel. Neben dem Gedicht „ich saz uf eime steine“ kennt man eventuell noch das elegische „Owe“, vielleicht in der Vertonung von Ougenweide, einer sogenannten Minne-Rock Band in den Siebzigern – lange vorbei, Konzertkarte¹ hab' ich noch.



„Owê, war sint verswunden alliu mîniu jâr!“

Was der altersweise Minnesänger resümiert, klingt so nachvollziehbar, so im Hier und Jetzt, das imponiert mir bereits als Jugendlicher. Obwohl ich da noch weit in die Zukunft blicke, gibt’s ja bereits das diffuse Gefühl, dass man in seiner Zukunft auch jede Menge verpassen kann – und wird. Fear of missing out, kurz FOMO nennt man das heute. Ein Störgefühl, dass sich wiederum nur einstellen kann, wenn man per se auf der Sonnenseite des Lebens steht. Ob Mittelalter oder Neuzeit, FOMO ist definitiv ein Reflex der Bessergestellten – sozusagen Wohlstands-Lamento.

Soll trotzdem nicht heißen, dass die Selbstreflexion kompletter Quatsch ist, denn letztlich war und bleibt sie ein Kernthema in Kunst und Kultur. Zählt man den mittelalterlichen Barden zur damaligen Popkultur, sind seine Texte eine wichtige Quelle zum Verständnis sowohl seiner individuellen Gefühlslage als auch einer allgemeinen Gesellschaftspolitik. Und zwischen den Zeilen zeigt sich, ein gesundes Selbstbewusstsein ist für den freiberuflichen Dichter überlebenswichtig.

Mein Faible für Walther von der Vogelweide kommt mit der Oberstufe. Das reine Jungengymnasium ist ein ähnlich verklemmter Turnierplatz wie zu Zeiten mittelalterlicher Minne. In jenem Jahr 1975 veröffentlicht der Lyriker Peter Rühmkorff sein Buch über „Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich“. Der doppeldeutige Titel steht hier nicht für eine vermeintliche Selbstüberschätzung des Autors, sondern thematisiert „das sich selbst erkennende Ich“ in den Künsten. Und dieses Ich ist in der Tat etwas auffallend Neues bei Walther von der Vogelweide. Wenn sich nämlich jemand auf einen steinernen Sockel postiert, die Beine übereinanderschlägt, darauf den Ellenbogen stützt etc., dann baut er schlicht eine sehr stabile Figur und damit sein Ego auf. Das ist ausgesprochen plausibel und in seiner Metaphorik unglaublich modern. Wer mag, ein kleiner Einblick …

Bemerkenswert auch, wenn jener seine Verse mit der ersten Person Singular beginnt; dann ist das eine klare Ansage, ein Statement und kein stilistischer Fauxpas. Und deshalb außergewöhnlich, weil uns die Kunstgeschichte eigentlich lehrt, dass die künstlerische Selbstdarstellung im Mittelalter prinzipiell „unschicklich“ ist. Dienstleister ordnen sich brav der Herrschaft unter, die Redensart „Wes Brot ich ess, dess Lied ich sing“ entstammt nun mal der höfischen Kultur. Ein Walther von der Vogelweide versteht es aber, sich mit seinem Auftreten souverän zu behaupten, ein Mann des Wortes macht seinen kurvigen Weg durch die deutschsprachigen Lande – aufrechten Ganges. Am Ende erhält er von Kaiser Friedrich II ein kleines Lehen, mutmaßlich in der Nähe von Würzburg.


Der fahrende Sänger in Bozen – Foto: AdobeStock

Ein ruhmreicher Minnesänger, redegewandt und kritisch. Aus eben dieser individuellen Perspektive heraus schafft er eine authentische Kunst, die das Publikum emotional erreicht. Ich mag's einfach, wenn jemand seine persönlichen Gedanken poetisch so ordnet, dass sie empathisch überspringen, weil sie mühelos in mein Gemüt passen – und sei es noch so betrübt.²


Mit der zweiten Strophe des Owe kann ich meinem damaligen Schrift-Professor eine Freude machen. Die Textur ist um ein halbes Jahrhundert „zu modern“, aber seinen Worten nach „kann man das gelten lassen“ ;-)

Owê, war sint verswunden alliu mîniu jâr!
ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr?
daz ich ie wânde, daz iht wære, was daz iht?
dar nâch hân ich geslâfen und enweiz ez niht.

nû bin ich erwachet und ist mir unbekant,
daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant.
liute unde lant, danne ich von kinde bin gezogen,
die sint mir worden frömde als ob ez sî gelogen.

…waz spriche ich tumber man durch mînen bœsen zorn:
swer dirre wunne volget, der hât jene dort verlorn.³
iemer mêr ouwê.



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¹ Pressefest Bad Godesberg '75: zwei Bands, die nix miteinander zu tun haben und auch nicht zusammenpassen, aber nacheinander ihr volles Programm spielen. Seltsam verblasste Erinnerung: auf dem Parkplatz ein bemalter VW-Bus, in der offenen Schiebetür Mädels in bunten Hippiekleidern und aus dem Kassettenrekorder die Stimme von Minne Graw. Wir haben in der Oberstufe fast alle eine Mittelaltermacke, ich der einzige Kraan-Fan. Nach dem Abi verliere ich meinen besten Freund aus den Augen – bislang vergeblich danach gegoogelt.

² Es sind jetzt gut zehn Jahre her, dass ich mit meinen Blog-Einträgen angefangen habe. Wer da überhaupt Notiz von nimmt? Von Marie weiß ich, dass sie ab und zu darin gelesen hat – an allen Kunstsachen so sehr interessiert. Wann hätte mich jemals ein junger Mensch nach meinem Lieblingsmaler gefragt? Seit sie nicht mehr lebt, liegt ein dunkler Schatten auf der Zukunft. In der Vogeltränke auf dem Grab spiegelt sich gelegentlich das Sonnensymbol.


„under der linden an der heide …“


³ Übersetzung ins aktuelle Hochdeutsche: „Wer dieser Wonne nachgeht, hat jene dort verloren“ – in mancher Übersetzung wird das etwas merkwürdig interpretiert, als ginge es um den Vergleich von irdischen und jenseitigen Freuden. Dem kann ich nicht folgen. Insbesondere, da zuvor in epischer Breite die Vielfalt der irdischen Freuden beschrieben und deren Verlust beklagt wird. Ich bleibe dabei: hier geht's einfach darum, dass man am Ende des Tages gerne grübelt, was einem so alles durchgerutscht ist.