Advent, Advent, …*

Turmuhr am 7. Februar 2022


Den Trierer Dom ziert eine feine, goldene Textzeile, deren Bedeutung ich mir über die Eselsbrücke „Advent heißt Ankunft“ endlich gut merken kann. Wenn man’s überhaupt immer so genau wissen will. Wer vor einem Dom steht, verharrt auch ohne Lesekompetenz einige Zeit ehrfurchtsvoll draußen und lässt die Baukunst auf sich wirken. Der Blick nach oben zum Turm ist strategisch kalkuliert und die Andacht dabei nicht unangenehm. Gerne höre ich die warmen Glocken läuten, insbesondere, seitdem es für mich keine Aufforderung mehr darstellt, wie zu meiner Kindheit, wo der Kirchgang noch eine lästige Pflicht war. Diese Unverbindlichkeit ist wohl das, was mein Interesse wachhält – die Botschaft und der fehlende Glaube. Vor kurzem lese ich ein SZ-Interview mit Patti Smith, die ein ähnliches Faible für Kirchen als Orte der stillen Einkehr hat – ohne beim Kerzenanzünden ihre Punk-Mentalität zu verändern. Die Frau ist eben auch eine Poetin mit Antennen in alle Richtungen.


Der römisch-katholische Imperativ

Die Kirche wäre aber nicht sie selbst, wenn sie uns so einfach in Ruhe lassen würde. Auch ohne Latinum spürt man, dass in den Spruchbändern und Inschriften erzieherische Anweisungen für die Ewigkeit geschrieben stehen. Da Google ohnehin stets weiß, wo wir uns aufhalten, ist ein Sucheintrag mit „Nescitis …“ schnell autovervollständigt, zackig übersetzt und schon weiß man, dass man hier auf dem Trierer Domplatz, mit Blick auf die prächtige Kirchturmuhr, sich seines unbeschwerten Lebens nicht so sicher sein soll. Klartext: „Du weißt nicht, zu welcher Stunde der Herr kommt“ – und was er dann mit dir vorhat. Und: ob er dann über Oberammergau oder aber über Unterammergau oder aber überhaupt nicht kommt … sorry, ist mir so rausgerutscht ;-)

Ob man in Andechs oder Trier oder sonst wo auf Kirchturmuhren schaut, meist wird man ans bewusste Leben gemahnt oder auf den Tod vorbereitet: „Nutze die Zeit!“ … „In einer dieser Stunden wirst du sterben!“ … Nihilistische Hinweise auf die eigene Bedeutungslosigkeit und im Widerspruch dazu die penetrante Aufforderung seine individuelle Nutzlosigkeit trotzdem nicht zu verschwenden. Religiöse Vorgaben sind wohl im Kern dazu gedacht, die Menschen immer etwas gaga zu halten. Wer den Krimi-Klassiker „Gaslicht“ kennt, dem kommt die zermürbende Psychostrategie bekannt vor: Gaslighting ist auch der eingetragene Fachbegriff dafür, wenn man jemanden auf diabolische Weise dahin bringen will, an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln. Was wäre die Kirche ohne Teufel, Dämonen und Totentanz, stets haben wir Schäfchen das Böse und das kalte Ende des Daseins vor Augen. Ja, die irdischen Hirten selbst können die größten Teufel sein. – Und dem Analphabeten ist das Bild der brennenden Hölle eine stete Warnung: Hüte dich vor der Dunkelheit!



Nur, wenn ich ehrlich bin, hat mir die Drohkulisse auch nie wirklich Angst eingejagt, der heilige Grusel ist nicht mehr als eine kunstvolle Geisterbahn. Die klappernden Knochen gehören nun mal zum Handwerk und das Angstmachen wie bei jedem Versicherungsunternehmen zum Business. Alsdenn, überhören wir die mahnenden Worte und freuen uns am künstlerischen Werk! Denn natürlich bietet sich die Vanitas-Symbolik einfach an, wenn man Kunst am christlichen Bau gestalten muss und schon mal beim Thema Zeit ist. Überhaupt ist der Mechanismus der Uhr, der im Gegensatz zum Stundenglas ein wirklich unaufhaltsames Zählwerk darstellt, ein Fundus der Metaphorik. Ich erinnere noch mal an die Kirchturmuhr ohne Zeiger in Jean Pauls Traum vom toten Jesus.

Nicht nur das Chronometer, fast alle Messinstrumente verändern auch unsere Selbstwahrnehmung. Ob römisch bezifferte Sonnenuhr, iWatch oder medizinische Überwachungsgerätschaften mit Digitalanzeige, alles was die Zeit im Raum mit der eigenen Lebenszeit ins Verhältnis setzt, macht nervös. Und schon sind wir wahlweise im Selbstoptimierungs- oder Panik-Modus.


Oben: auf Andechs – wenn man Glück hat, probt jemand an der gewaltigen Orgel. Mächtige Vibes!
Unten: Kirchtürme und ihre Botschaften

Carpe Diem '83

Dabei ist das Zeitverschwenden so erholsam. Und komischerweise kann ich mich sogar mit Genuss an Momente erinnern, wo ich ganze Tage verplempert habe. Auch Albernheiten habe ich mit einem gewissen Ernst verfolgt. Wie also pflückt man den Tag mit natürlichem Laissez-faire und ohne auf der nächsten Bananenschale auszurutschen? – Apropos, vom Trierer Domplatz aus sieht man gleich zum wunderschönen Hauptmarkt rüber und in direkter Linie auf das mittelalterliche Marktkreuz. Ich erinnere mich gerne, während der Studentenzeit dort auf dem mehrstufigen Sockel herumgelungert zu haben. Folgende Slapstick-Anekdote hab‘ ich besonders gern im Gedächtnis …



Zu Beginn des Sommersemesters ‘83 gönne ich mir am späten Nachmittag ein Dosenbier im Freien. Sitze am Marktkreuz mit Blick auf die Domuhr und schaue in den Wirrwarr umherstolzierender Beinchen. Irgendwas passiert ja immer und tatsächlich: im Alltagsgewusel plötzlich ein Fixpunkt. Auf zwölf Uhr, zirka zehn Metern Entfernung, signalgelb und unfassbar albern: eine frisch weggeworfene Bananenschale erwartet ihr erstes Opfer. Ich denke, welch gemeines Exempel dafür, dass man von draußen die Brisanz der Lage klarer antizipiert, als wenn man im Haufen mitzockelt. So: und jetzt, wie im Gestaltungsunterricht gelernt, nicht aufs Detail gucken, sondern aufs Gesamte. Ich richte mich auf, steige eine Stufe auf dem Sockel des Kreuzes höher, beobachte die Wellenbewegung der Köpfe und zähle im Geiste langsam bis zehn. Schon bei sechs gibt’s eine kleine Irritation im Flow, ein Haupt taucht ganz kurz nach unten ab, touchiert leicht seitlich – ein stiller, harmloser Drift. Ein Kräuseln im Strom, unspektakulär, wie wenn man ein Steinchen in die Mosel wirft. Mehr nicht.

„Was grinst du?“
Ich drehe mich um und sehe unten meinen lieben Kommilitonen A., der seine Zeichenmappe in die andere Hand wechselt. Da ich mich freue ihn zu sehen, behalte ich meinen Gesichtsausdruck bei. Sein Blick streift die zerdrückte Bierdose in meiner Hand.
„Geht’s dir gut?“, fragt er.
„Ja klar“, sag' ich, „hab' gerade was Lustiges gesehen“.