Äquinoktium


„Indessen nahte der September heran. Die Felder waren leer, das Laub begann abzufallen, und mancher Hektische fühlte die Schere an seinem Lebensfaden. Auch Johannes erschien unter dem Einflusse des nahen Äquinoktiums zu leiden; die ihn in diesen Tagen sahen, sagten, er habe auffallend verstört ausgesehen und unaufhörlich leise mit sich selber geredet, was er auch sonst mitunter tat, aber selten. Endlich kam er eines Tages nicht nach Hause.“


Diese düster-romantische Textstelle findet sich in Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche, im Moment als Vorlesepodcast zu haben. So kann ich mich des Nachts, aus dem Schlaf aufgeschreckt, gleich wieder literarisch einlullen lassen, was am besten funktioniert, wenn man die Story schon kennt, nicht unbedingt zuhören muss. Das Ende ist ja aus der Schulzeit noch in Erinnerung: man findet den vermeintlichen Johannes erhängt in jenem verfluchten Baum, der Tote wird aber anhand einer Narbe tatsächlich als ein anderer, nämlich als dessen Jugendfreund Friedrich identifiziert. Gruslige Kehrtwende, wenngleich beide Figuren, einerseits physisch ähnlich, aber charakterlich grundverschieden, als gespiegeltes Alter Ego zu verstehen sind. Hat was von einem Psycho-Krimi, ist fast zur selben Zeit erschienen wie Edgar Alan Poes Doppelmordstory aus der Rue Morgue, hingegen in einer völlig anderen Erzählform. Allein das Tempo ist aus einer anderen Welt. In Droste-Hülshoffs Novelle gibt es keine cleveren Detektive, hier regelt alles das lange währende Schicksal.

In meinem Bücherregal habe ich ein wertvolles Exemplar der Judenbuche, einen Sonderdruck aus der Offizin von Eckehart Schumacher-Gebler, ein wirklich feines, im Bleisatz neu gedrucktes Büchlein. Im Anhang ist ein aufschlussreicher Brieftext der Autorin zu lesen, wie sie über die rein schriftliche Gestalt der ersten Veröffentlichung etwas ins Zweifeln kommt, ob sich alles wirklich so klar darstellt, wie sie es sich gedacht und vor allem, wie sie es im kleinen Kreis mündlich vorgetragen und betont hat. Zudem ist sie besorgt, mit ihrer Novelle, die wie damals üblich in vielen Fortsetzungen in einem Journal erscheint, ihren männlichen Konkurrenten den Platz streitig zu machen. Man weiß ja, dass insbesondere das 19. Jahrhundert eine ausgeprägte Frauenfeindlichkeit entwickelt. Wie bei Carson McCullers, so wird auch bei dieser Schriftstellerin der Titel ihres berühmtesten Werkes verlagsmäßig geändert. Wilhelm Hauff managt die Herausgabe und macht daraus Die Judenbuche.

Und nun bleibe ich an diesem seltsamen Wort hängen: Äquinoktium, geheimnisvoll und sperrig. Ich habe Jean-Michel Jarres Synthesizer-Klänge im Ohr, sein zweites Album „Équinoxe“ und durch die Schauergeschichte der Droste bekomme ich ein Gefühl für den merkwürdigen Schwebezustand einer Tag- und Nachtgleiche, und die möglichen Beklemmungen aus der Vorahnung auf eine dunklere Phase. – War's das oder kommt da noch was?

Melancholia Overtüre – Lars von Trier, 2011 (Triggerwarnung: Wagnermusik!) – Upload by Ode



Melancholia¹

Dass sich Eindrücke in ein Gesamtbild verdichten, liegt ja weniger an den Tatsachen selbst, als an der selektiven Wahrnehmung, die wiederum das Ergebnis eines Gemütszustandes ist. Dann kommt einem ein Weltuntergangsszenario wie im Film „Melancholia“, mitten in der Nacht, gerade recht und man bleibt bis halb drei vor der Glotze. Der Film ist 12 Jahre alt und hat ein Intro in Super-Slo-Mo, von hypnotisierender Wirkung. Die Ouvertüre ist defacto die Endzeitvision der Protagonistin: der riesige Gasplanet Melancholia hat sich eine Ewigkeit hinter der Sonne versteckt und zieht nun unaufhaltsam auf die Erde zu. Szenerie: ein entlegener, schlossartiger Landsitz, eine Hochzeitsgesellschaft zerstreut sich im Streit und eine kleine Gruppe, darunter die Braut sowie die Familie ihrer Schwester bleiben zurück. Kurz gibt es Hoffnung, als der Planet an der Erde vorbeizieht, doch kehrt er in einer Gravitationsschleife zurück und verschluckt die Welt im Feuersturm.

In der Schlussszene kauern die beiden Schwestern und der Sohn auf einer Anhöhe in einem schutzlosen „magischen Raum", ein aus grob geschnitzten Ästen zusammengestelltes, tipi-artiges Gestänge, wie es auch bei uns im Wald und an der Isar zu finden ist, …



… an sogenannten Kraftorten² – ein Schamanen-Zauber à la Beuys? Auch hier kommt die Bedrohung aus dem All, aber mit einem Badetuch wird aus dem Holzgerüst ein passabler Sonnenschutz ;-)



Zum Titelbild: Einmal gehe ich unseren Lieblingswanderweg alleine und bevor von hinten ein sehr dunkles Gewitter herandriftet, scheint die Abendsonne seitlich tief und intensiv auf das abgeerntete Feld, lässt es zitronengelb aufleuchten, gerade lang genug, dass ich ein Foto davon machen kann. Die malerisch gewachsene Baumgruppe in der Weite hat eine Silhouette wie von Rembrandt³ radiert.

Das Dasein ist eine real-existierende Kunstform und noch fällt uns der Himmel ja nicht auf den Kopf. Schon länger her, da zeigt mir Leon ein Foto, dass er irgendwann in seiner Lieblings-WG gemacht hat: Ausblick vom Balkon aufs Bergpanorama in der Morgensonne, ins breite Geländer geschnitzt der Liedtext von Louis Armstrong … „And I think to myself, what a wonderful world!“



__________

¹ siehe auch Dürers Melencolia I

² Diese seltsamen Plätze in Flur, an Flussufern und im Wald sind immer häufiger zu finden und wirken auf den ersten Blick sehr friedlich und künstlerisch. Der rituelle Blödsinn dahinter ist allerdings befremdlich, weil er möglicherweise für eine recht verstrahlte Weltanschauung steht. So gibt es zum Beispiel die berüchtigte Drei-Bethen-Quelle im Wald bei Leutstetten, dazu hat die SZ vor Jahren schon einen Artikel verfasst mit der Headline Mystisch – und voller Keime. Dummheit ist von je her ungesund.

³ Rembrandt van Rijn Die Drei Bäume