Albrecht, das Flüchtlingskind

Der berühmteste Sohn der Stadt


Die Öffnungszeiten des Dürerhauses sind etwas knapp bemessen, wenn man auf der Rückfahrt aus dem Rheinland und nach Staumeldungen spontan einen Abstecher nach Nürnberg macht, weil das Wetter so schön ist. So stehen wir also ausgerechnet hier vor verschlossenen Riegeln, obwohl der Hausherr im Familienwappen¹ zwei geöffnete Türflügel führt. Omen est nomen, denn der aus Ungarn eingewanderte Papa – auf der Flucht vor osmanischen Repressalien – stammt aus einem Dorf namens Ajtó, was auf Deutsch Tür heißt und ihm den Familiennamen Thürer einbringt, den man in Franken natürlich möglichst weich ausspricht, denn ein T gibds ned im frängischen Alwabed. Vater und erster überlebender Sohn heißen Albrecht, der Jüngere wird der größte deutsche Künstler aller Zeiten. Stolze Leistung für ein Flüchtlingskind, aus heutiger Sicht ein wahres Integrationswunder.

Die Nürnberger freuen sich immer, wenn ihre Stadt der Schönheit und Kunst wegen und nicht als Tatort der Geschichte besucht wird. Nun gibt es ein schönes Jubiläum: Im Mai feiert der berühmteste Sohn der Stadt seinen 550. Geburtstag. Der ist uns also schon mal durch die Lappen gegangen. Das 500. Todesjahr trage ich mir jetzt früh genug im Kalender 2028 ein ;-)


¹oben: das Familienwappen derer von „Thürer“




Trotz verschlossenem Dürerhaus ist ein Sommerabend in Nürnberg eine romantische Sache. Viele Leute unterwegs, quirliges Leben, ohne Hektik. Man kann sich vorstellen, wie hier in der Renaissance das Leben pulsiert. Kaum vorstellbar, was sich hier an geballter Wirtschafts- und Kulturpower auf engsten Raum abspielt. Und der junge Albrecht mitten drin am „place to be“. Der Patenonkel besitzt die größte Druckerei in Deutschland, der Vater ein erfolgreicher Goldschmied mit großem Einfluss. Humanisten, Wissenschaftler und steinreiche Auftraggeber denen man tagtäglich über den Weg läuft. Gelegentlich sucht die Pest die Stadt heim. Dann setzt sich der Albrecht aufs Pferd und reist nach Italien, auf Umwegen in die traumhafte Partnerstadt Venedig. Sieht und lernt alles, was in Kunst und Wissenschaft neu und angesagt ist.

Im vorgeschrittenen Alter dann diese sagenhafte Reise in den Norden, von der er allerdings krank heimkehrt und sich auch nicht wieder erholt. Auf einem Abstecher nach Antwerpen sieht er zum ersten Mal im Leben Kunst aus der Neuen Welt. Der Kaiser ist zur Krönung in räumlicher Nähe und führt koloniale Beutekunst mit sich, die er einem erlesenen Publikum vorführt. Dürer ist vollkommen verstört von so viel Schönheit, deren ästhetische Struktur er im Detail überhaupt nicht versteht, sondern nur die Gesamtwirkung genießt. Alles fremd und irritierend perfekt. Er nimmt einiges davon zeichnend auf, macht sich Notizen, im eigenen Werk kann er es aber nicht verwerten. Dafür ist auch seine Lebenszeit zu kurz. Wie besessen führt er auch sein theoretisches Werk fort, von dem er noch sehr viel publiziert, im geplanten Umfang jedoch nicht fertigstellen kann. Gegenüber seinem älteren Zeitgenossen Leonardo, der nur Manuskripte hinterlässt, hat Dürer allerdings einen unfassbaren Nachlass an gedruckten Büchern. Überhaupt, Druckgrafik und Bücher sind von Anfang an Dürers Geschäftsidee. Wohl dem, der einen coolen Patenonkel hat!

Zurück in München werde ich möglichst bald in die Alte Pinakothek stiefeln, um mich beim stolzen Albrecht Auge in Auge zu entschuldigen, dass ich seinen Geburtstag verpasst habe. Dass die Nürnberger das mittlerweile berühmteste Selbstporträt der Welt an die Münchner verhökert haben, werden sie wohl nie verwinden.



Leider ist das früherere Video über den seltsamen Verkauf des o. g. Bildes nicht mehr verfügbar. Scheint nach wie vor ein Streitpunkt zwischen Franken und Oberbayern zu sein. Als die Nürnberger zur Jubiläums-Ausstellung den Dürer-Jesus ausleihen wollen, antwortet die Alte Pinakothek lapidar: „Das Bild kann nicht reisen.“

PS: 2023 Dürer im Selfie-Kontext