Anfang und Ende der Welt

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„Das maria gottes můter sey, das gelaub ich nit! sälig sind sy baide on zweifel"
Abschrift aus einem Minnetext, von Clara Hätzlerin, Kalligrafin zu Augsburg (1430-1476)


Schon immer mal wollte ich ein stimmungsvolles, sakrales Weihnachtsmotiv behandeln. Obwohl ich kein gläubiger Mensch bin, auch zur Christnacht nicht in die Kirche gehe, ist mir der liturgische Zauber aus der Kindheit noch bestens vertraut. Nur ist mir eine gesunde Skepsis wichtig und da kommt mir dieses nette Sprüchlein oben ganz recht. Erstaunlich, dass um diese Zeit soviel profane Nüchternheit möglich ist. Wir machen uns ja immer so leicht ein Bild von der Unbedarftheit unserer Vorfahren: ungebildet und fromm. Und womöglich noch in einem kausalen Zusammenhang.

Beides ist bei näherer Betrachtung aber nicht der Fall. Der moderne Mensch, in seiner webbasierten Verschwörungsblödheit, sollte sich da gar nichts einbilden. Beispielsweise hat, im Gegensatz zu heute, die letzten zweitausend Jahre kaum jemand ernsthaft daran geglaubt, dass die Erde flach ist, obwohl das gerne mal so arrogant unterstellt wird.¹ Ein Blick auf die überlieferten Bilder, auch die der christlichen Kunst, hätte genügt um festzustellen, dass es hier jede Menge Globussymbolik wie Reichsäpfel und dergleichen gibt. Die Mondsichel ist zwar stets das Hauptrequisit der Madonna, als Säulenheilige steht sie aber oft genug auch auf einer Weltkugel.

Allein über die Geschichte der Mariensäulen ließe sich viel erzählen. Allesamt errichtet aus Motiven der Dankbarkeit und Demut, in Gegenwart der vier Schrecken: Krieg, Hunger, Pest und naja, des Unglaubens. Die erste Mariensäule wird im Dreißigjährigen Krieg in München errichtet, hat auf dem unteren Sockel in allen vier Himmelsrichtungen die dazu passenden allegorischen Figuren: Löwe, Basilisk, Drache und Schlange. Die Münchner Goldmarie steht auf einer Marmorsäule, insgesamt vierzehn Meter hoch und gilt als Vorbild für hunderte, die da noch folgen. Mit über vierzig Metern steht Deutschlands höchste Mariensäule in Trier. Hoch oben auf den westlichen Felsen und weithin über dem Mosellauf sichtbar. Nachts sieht das, so einsam stehend und beleuchtet, besonders schön aus. Man kann zu Wunschterminen für die Beleuchtung spenden, zum Andenken an geliebte Menschen. Und wer kennt nicht den eingeübten Reflex, in Kirchen und an Gedenkorten in inniger Stille Kerzen anzuzünden, aller agnostischen Grundhaltung zum Trotz.

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¹ siehe Wie die Erde zur Scheibe wurde


Mariensäule in Trier – beliebter Aussichtpunkt in meiner Studentenzeit. Foto: AdobeStock

Stefan Lochner, Schilderer zu Köln

Die oben erwähnte Schreiberin aus Augsburg lebt in etwa zu selben Zeit wie Stefan Lochner, der bedeutendste Maler der Spätgotik in Köln. Ein Künstlerbegriff im heutigen Sinn existiert noch nicht und Gemälde werden, den Zunftregeln gemäß, grundsätzlich nicht signiert. Die Zuschreibung der Arbeiten Lochners ist darum auch etwas umständlich, verlässliche Auftragsdaten gibt es praktisch erst ab der Renaissance. Im Grunde fußt alles auf einen einzigen Eintrag Albrecht Dürers, der in seinem Tagebuch vermerkt, dass er auf seiner Durchreise in die Niederlande, die Altartafel eines „Meisters Steffen“ zweimal aufsucht. Erst im 19. Jahrhundert identifiziert man den Maler als Stefan Lochner und die Tafelbilder als den Altar der Stadtpatrone, der heute in der Marienkapelle des Kölner Doms zu sehen ist. Allein durch den genauen Stilabgleich mit diesem Einzelwerk erfolgt die Zuordnung zu einem potenziellen Gesamtwerk, was damit ohne Gewähr bleibt.

Madonna im Rosengarten – ein Andachtsbild

Lochners mittelgroßes Tafelbild (Format 51 x 40 cm) mit der zierlichen Madonna wird im Trend des Stadtmarketings etwas albern als „die kölnische Mona Lisa“ verkauft. Ein unpassender Vergleich, der wohl eine Berühmtheit belegen soll, die es eigentlich nicht gibt und bei diesem Sujet fast etwas unsittlich wirkt. Jahrhundertelang ist dieses Bild sicher im rein privaten Bereich als sogenanntes Andachtsbild verwahrt worden, war also nie für die Öffentlichkeit bestimmt. Eine Perspektive, die uns heute regelrecht fremd ist, ja man fragt sich fast, warum sich ein Maler derart intensiv um die perfekte Ausführung und Komposition bemüht, wenn das Werk im Verborgenen bleibt, ohne Außenwirkung. Die Antwort: Das Bild ist kein plakatives Kunstwerk und hat mit der uns geläufigen Kommunikation nichts zu tun. Hier will sich keine Eitelkeit einem Publikum verkaufen, sondern das Werk allein soll eine spirituelle Verbindung mit dem einzelnen Auftraggeber eingehen oder zumindest mit einem ganz intimen Personenkreis, in diesem Fall möglicherweise eine Kölner Patrizierfamilie. Das kostbare Werk ist schließlich ein außerordentlich teures Requisit.

Die Marienfigur nimmt in der Kunstgeschichte des christlichen Abendlandes neben der Dreifaltigkeit den höchsten Rang ein. Sie ist die Inkarnation des bedingungslos Guten, die Schmerzensreiche und Nachsichtige, im Licht des Himmels die beschützende Mutter aller Menschen gegen das Böse aus der Dunkelheit. Oft auch ein gefühliges Kitschbild, aber in der Hauptrolle die Person, die mit „Bitte für uns!“ angerufen wird, wenn‘s, wie gesagt, den Leuten wirklich dreckig geht, in Schreckenszeiten, Krieg und Todesangst. Prinzipiell wäre hierfür weder Religion noch Tiefenpsychologie zu bemühen. Das Phänomen erklärt sich von selbst. Der Mutterreflex ist unser aller Panikprogramm.

Die Ordnung des Himmels und der Welt

Selbst Joseph Beuys erklärt seine Kunst im Wesentlichen mit der instinktiven Suche nach einem Ordnungsprinzip. In Stefan Lochners Ikone findet sich spontan ein sehr deutliches Konstrukt aus Dreieck, Quadrat und Kreis. Und auch das scheint die Ewigkeit zu überdauern. Es ist schon kurios, wie sehr die mittelalterlichen Kompositionsstrukturen selbst ins Bauhaus-Sammelsurium hineinpassen. Dass hier der Kreis eine göttliche Form symbolisiert ist einleuchtend. Man kann sich vorstellen, dass es in der Astronomie bis ins 17. Jahrhundert darum schlicht unvorstellbar war, dass Planeten keine perfekte Kreisbahn ziehen, sondern auf Ellipsen herumeiern. Das passte einfach nicht zur göttlichen Vollkommenheit, auch wenn die Beobachtungen und Messungen dem widersprachen. Bei Lochner sehen wir eine durch und durch fromme Astronomie im goldstrahlenden Nimbus der Maria. Die meisterliche Punzarbeit ist das auffälligste Element. Insgesamt ist das Tafelbild mit einer figurativen Fülle ausgestattet, die fast an Dürers Melencolia I erinnert. Auch wenn es praktisch ausgeschlossen ist, dass der Renaissancemaler das Werk auf seiner Stippvisite im Rheinland gesehen hat.

Die Kölner Malerschule und der „weiche Stil“ …

Stefan Lochner, Madonna im Rosenhag, Wallraf-Richartz-Museum, Köln. Bildquelle Wikimedia Commons
Doku Stefan Lochners Madonna in der maltechnischen Rekonstruktion

Tausend Jahre wie ein Tag

In meiner Kindheit wachse ich mit der Rheinsage des Mönchs von Heisterbach auf, der über den Gedanken meditierend, dass für Gott ein Tag wie 1000 Jahre sind, morgens durch eine bestimmte Tür in der Klostermauer verschwindet und nie wieder auftaucht. Einmal, beim Waldspaziergang, zeigt mir mein Opa „die Porz*, durch die me net durchjonn darf“ und jagt mir einen gehörigen Schrecken ein. Aus der Perspektive des Mönchs löst sich nämlich alles ziemlich gruselig auf. Am späten Abend kommt er zurück, erkennt nichts mehr wieder und seine Existenz ist allen, nunmehr völlig fremden Brüdern ein Rätsel. In uralten Listen wird schließlich sein Name gefunden – vor tausend Jahren! Im Angesicht dieser Erkenntnis und den Gesetzen der Natur folgend, wenn auch mit erheblicher Verzögerung, fällt der Mönch auf der Stelle tot um. Die Story gibt es auch andernorts.


*) Porz = Pforte, Tür in der Klostermauer zu Heisterbach. Foto: AdobeStock


Die christliche Menschheit denkt also gern in 1000-jährigen Zyklen und ausgehend von der 6-tägigen Schöpfung hat sich auch Augustinus vorgestellt, dass die Welt dann einigermaßen pünktlich im 6-ten Jahrtausend zu Ende geht. Das beginnt mit Christi Geburt und trägt den Namen „Aetas Christiana“. Zum Glück geht dann doch die Welt im Jahr 1000 nicht unter, womit sich die aus unserer Sicht nun Mittelalter genannte Zeitspanne, noch mal um knapp 500 Jahre verlängert. Und das biblische Harmagedon bleibt wohl auf ewig eine leere Drohung. Gottseidank ;-)

Vom berühmten Kloster in meiner Heimat führt sinnigerweise eine Spur zu Stefan Lochner, denn es gilt als wahrscheinlich, dass es sich beim „Meister des Heisterbacher Altars“ um einen Schüler aus dessen Werkstatt handelt. Synchron zum Ende des Mittelalters haucht Meister Stefan sein Leben aus. Er stirbt anno Domini 1451, vermutlich an der Pest, als einer der letzten Zunftmaler der alten Welt. Bereits im Jahr darauf erblickt mit Leonardo ein regulärer Künstlertypus das Licht der Neuzeit.

Anfang und Ende

Wer glaubt ernsthaft an Himmel und Hölle, Engel und das ganze Szenario der sakralen Bühne? Und dennoch wirbeln viele dieser vertrauten Figuren durch meine Fantasie und einige schöne Relikte finden ihren sicheren Platz. Vielleicht in einer Art mentaler Wunderkammer, in der ureigene Kaprizen aufbewahrt, eingeräumt oder versteckt werden. Schade, dass sich am Ende alles in Luft auflöst löst. Die sentimentale Frage zur Würde des einzelnen Menschen hatte sich schon Heine gestellt: „Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht ebenso viel wert wie das des ganzen Geschlechtes?“ Das ist rhetorisch gemeint und wird gleich begründet: „Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.“ Wenig poetisch formuliert es Karl Lagerfeld: „Mein Leben fängt mit mir an, hört mit mir auf.“

Meine letzte Weihnachtspost war mit dem Abflauen der Pandemie, dem Revival der US-Demokratie und mit einigen schönen Jobs im persönlichen Berufsleben, von einer geradezu rosigen Erwartung geprägt. Wenn ich die einleitenden Zeilen unserer Weihnachtsbotschaft 2021 lese, kann ich die bittere Ironie kaum glauben. Das Tragische ist, dass wir das dünne Eis nicht gespürt, geschweige denn gesehen haben. – „Fürchtet euch nicht!“ posaunen die Engel.

Besinnliche Weihnacht und ein glückliches und zufriedenes Neues Jahr 2023!

Kleine Chronik Weihnachtskarten seit 2015