Countdown – As SLow aS Possible


Das Jahr ist vorbei. Kurz vor Redaktionsschluss fällt mir noch einiges aus der „Fließenden Welt“ ein, schwappt noch rüber ins neue Jahr, vor allem dieser Fluxus-Kram. Unser scheidender Kanzler würde wohl „Tünkram“ dazu sagen. Für mich ist genau das noch ein wichtiger Puzzlestein, der zeigt, wie Kunst und Kultur dynamisch in Bewegung bleibt. Letztlich erklärt sich vieles von selbst, wenn man sich an den Grund für künstlerisches Wirken erinnert: Kunst macht man, weil es einen drängt, seiner Fantasie nachzugehen, im Idealfall, weil man sein vermeintlich zweckloses Tun genießt. Auf diesen einfachen Nenner gebracht, sind sich die Menschen auf der ganzen Welt doch sehr ähnlich. Und darum sind auch über die Jahrhunderte und die Kontinente hinweg die Geister in eigener Mission unterwegs und, wenn’s gut läuft, im friedlichen Austausch. Die Avantgarde vorneweg.

Wenn man bedenkt, dass der mondäne Begriff der Avantgarde aus dem Militärischen stammt, lässt sich leicht nachvollziehen, dass die Vorhut als erstes einen auf den Deckel bekommt – obwohl Picasso behauptete, die Avantgarde würde am meisten von hinten beschossen. Ob von vorne oder hinten bekämpft, viele Angriffslustige sind einfach unter die Räder gekommen und schnell vergessen. Was aber wirklich überzeugt, bringt und hält den Kunst-Flow in Gang.

Und hier kommt Fluxus¹ ins Spiel: Letztes Jahr taucht im Familien-Nachlass einer Freundin die Originalgrafik einer wohl prominenten Vertreterin des Fluxus auf, Marie Bauermeister, die ich aber erst mal googeln muss. Ich fand die schrägen Vögel der 60er-Jahre-Avantgarde nicht uninteressant. Als ich mich parallel wieder für den Japonismus erwärme, fällt mir eine frappante Überschneidung der künstlerischen Ansätze auf. Wenngleich das eine rund 250 Jahre nach dem anderen passiert, drängt der Ausdruckswille in dieselbe Richtung. Exakt die „Fließende Welt“ ist das Motiv und den klangvollen, internationalen Namen Fluxus hat George Maciunas, der Begründer der Szene, bewusst gewählt. Am deutlichsten wird dieser Impuls in der Musik. Hier ist der Faktor Zeit mit den Sinnen ungleich besser erfahrbar als in jeder anderen Kunstform. Als bedeutender Anreger des Fluxus gilt darum auch der amerikanische Komponist John Cage.

__________

¹ Die Fluxusbewegung entstand in den 1960er Jahren als avantgardistische Kunstbewegung, die traditionelle Grenzen zwischen Kunst und Leben auflösen wollte. Mit einem Schwerpunkt auf Performances und Experimenten verfolgte Fluxus das Ziel, Kunst zugänglich, spielerisch und provokativ zu gestalten. Wichtige Vertreter der Bewegung waren unter anderem George Maciunas, Nam June Paik, teilweise auch Joseph Beuys und, tatsächlich: Yoko Ono. In Marie Bauermeisters Kölner Atelier versammelten sich bedeutende Künstler, Musiker und Denker, darunter auch John Cage, einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts.


4:33

Cages Paradestück ist das Werk „4:33“, eine Klavierperformance, bei der ein Solist genau für diese Zeitspanne vor dem Instrument sitzend ausharrt, eingangs demonstrativ die Klappe schließt, einige Gesten vollführt, am Ende die Klappe wieder öffnet, sich vor dem Publikum verbeugt und die Bühne verlässt. In der Partitur ist die Dauer jedes Satzes exakt angegeben, jedoch keine einzige Note oder Spielanweisung. Interpretiert wird nur die Struktur des Stücks – den Rest übernehmen der Raum und die Zeit. Man könnte denken, es ginge um Stille, aber die Aktion beweist das Gegenteil. Das Publikum hustet, die Kleidung raschelt, entfernte Außengeräusche dringen ein, der Klang der Stille selbst wird hörbar. Soweit die Darbietung. Video auf YouTube

Das Stück ist für sich allein auch als Audiofile verfügbar, einfach mal downloaden oder streamen! 4 Minuten und 33 Sekunden – Nichts! Die Soundkurve als Nulllinie. Wer‘s nicht total bescheuert findet oder gar beleidigt ist, denkt sich nix dabei und bleibt cool in seiner Verwirrung.

Und nun hinein in die Geisterbahn des John Cage! Hinweis: hier werden Ausdauer und etwas Gleichmut vorausgesetzt. Zwischendrin kommt eine gewisse Andacht auf, aber dann lauern diese teuflischen Disharmonien – give it a try!



Organ²/ASLSP (As SLow aS Possible) ~ John Cage | Art Film (2020) by Alejandro Mos Riera.
Ein sehr langatmiges, fotografisch starkes Video. Das Musikstück wurde 1987 für Orgel geschrieben und basiert auf dem früheren Werk ASLSP von 1985; eine typische Aufführung der Klavierversion dauert 20-70 min.


Organ²/ASLSP

Die japanische Kunst des Ukiyo-e und die Fluxus-Kunstströmung teilen eine Betonung auf das Flüchtige und Zeitliche, die auch in John Cages obigem Werk hörbar wird. Die „Bilder der fließenden Welt“, thematisieren Vergänglichkeit und die Schönheit des Augenblicks. Fluxus und insbesondere Cage gehen einen Schritt weiter: Sie dehnen das Zeitverständnis und die Wahrnehmung aus. Wenn auch das nachfolgende Projekt im Ansatz noch schräger ist, so ist doch die Performance an sich und ihre Inszenierung im Raum ein ästhetisches Konzept. Außerdem scheint ein einzelner Akkord für das Ohr angenehmer. Und schließlich kann man die eigene Verweildauer in diesem Szenario selbst bestimmen. Wer genervt ist, geht an die frische Luft. Auch eine Form von Kunstfreiheit.



John Cage: ORGAN2/ASLSP - As SLow aS Possible, Upload: Universes in Universe.
Seit 2001 wird in Halberstadt, Deutschland, das Werk von John Cage für die Dauer von 639 Jahren zur Aufführung gebracht. – Zitat von Joseph Beuys bei 1:25 „Die Ursache liegt in der Zukunft“.


Fazit: Man kann auch alles komplett übertreiben, und das meine ich jetzt nicht negativ. In Halberstadt hat man sich die Vorgabe des „as slow as possible“ zu Herzen genommen und die Aufführung auf geplante 639 Jahre ausgedehnt – und die Dehnung ist ja ein erklärtes Prinzip. Alle paar Jahre ein Klangwechsel, über den in diesem Jahr sogar in der Tagesschau berichtet wurde. Wer sich das Video oben anschaut, hört den Akkord aus c‘ (16‘), des‘(16‘), d‘, dis‘, e‘, ais‘, e‘‘, der nun für zwei Jahre von der kleinen, aber standhaften Orgel geflötet wird, sofern der Blasebalg durchhält. Eine recht gut strukturierte Website erklärt das Projekt.

Das Halberstädter Projekt übertragen Zeit in eine Installation. Wie Ukiyo-e die Betrachtenden in den Moment eintauchen lässt, fordert „ASLSP“Geduld und Reflexion über das Menschliche und das Unendliche. Beide Kunstformen zeigen, dass alles vergänglich ist und verbinden Schönheit mit einem ästhetischen Sinn für das Jetzt und das Noch-Nicht. So schaffen sie, wie eingangs erwähnt, einen kulturellen Dialog zwischen unterschiedlichen Epochen und Welten.

So, das Jahr ist vorbei, also nur noch schlappe 616 Jahre bis zum letzten Akkord. Nächstes Jahr nach Halberstadt? Eher nicht, immer langsam! (Lesezeit, ohne Video 6:33 – Klappe zu!)



Apropos: mehr über die fließende Welt (2 japanische Blog-Beiträge):



Mehrdeutige Ansichten über die fließende, vergängliche Welt Hokusai und der heilige Berg Fuji
Über Schönheit im Unvollkommenen Die Leichtigkeit des Designs