Calligraffiti in dunklen Zeiten

Erster Versuch einer Neunjährigen


Wenn man erwachsene Kinder hat, ist die Erinnerung an Kindergeburtstage ganz weit weg. Dass solche Events aber auf die Kondition gehen, weiß man noch. Allein die Geräuschkulisse verlangt eine gewisse „Resilienz“, wie man heute sagt. Wenn sich nun ein Kalligrafie-Workshop mit dem Format Kindergeburtstag kreuzt, ist die oben genannte Münchner Ferienfreizeit mit 9 bis 11-Jährigen ganz gut beschrieben. Die acht Stunden werden mit Spielpausen, beaufsichtigt durch Betreuer*innen, aufgelockert. Es ist lustig, überraschend, lehrreich, anstrengend und auch anrührend.

Freitag, letzter Tag der Pfingstferien. Wir sind im Rahmen einer einwöchigen Tagesfreizeit als „Gäste“ herzlich willkommen. Dreizehn Kinder, die nicht, wie in München üblich, mit den Eltern zum Skilaufen verreist sind, wollen tagsüber versorgt und unterhalten sein. Aus allen Himmelsrichtungen der Stadt werden sie morgens ins Schulzentrum am Königsplatz gebracht. Den ganzen Tag Programm, Spiel und Spaß, Essen und Trinken, wirklich großartig gemacht und liebevoll moderiert, hauptsächlich von vielen jungen Studierenden adäquater Fachrichtungen. Die Klassenräume sind bunt dekoriert, die Kinder, die sich alle nicht kennen, fühlen sich wirklich wohl.

Meine Frau und ich stellen uns als Designerin und Designer vor, was uns augenscheinlich Respekt verschafft und dann geht’s gleich los. Die Tische sind abgedeckt, die Werkzeuge bereits verteilt und alle schreiben brav, erst mal auf kariertes Papier, danach gehen wir mit „abrakadabra“ – weil das so schön viele „a“ hat – zum wilden Gekrakel über. Den eigenen Namen zu schreiben, gefällt eigentlich allen, und weil es so gut läuft, entwickeln wir aus den Initialen noch schnell ein „Logo“. Für ganz Eifrige wäre da noch ein kleiner Text aus dem fliegenden Klassenzimmer. Zum Schluss verbasteln wir alles in einem schicken Leporello, den man dann zu Hause stolz vorzeigen kann.


Seit sechs Wochen beherrscht der Krieg die Medien und man fragt sich, was das mit den Jüngsten der Gesellschaft so macht. Lassen sich die bösen Geister mit etwas Ferienzauber vertreiben? Vielleicht, denn obwohl wir mit der Schreiberei ja eher was schulähnliches machen, sind alle freudig dabei, weil’s hier wohl um „Kunst“ geht – Calligraffiti ist cool und macht Laune. Ein didaktisches Ziel gibt’s natürlich nicht, nach einzelnen Buchstabenformen sollen alle gleich richtige Worte schreiben – was ihnen so durch den Kopf geht. Die Kinder sind lebhaft und zugleich konzentriert. Es gibt aber auch stillere und hinter den Coronamasken verstecken sich auch schüchterne Gesichter. Später fragt mich meine Frau, ob ich gesehen habe, was die kleine Anna geschrieben hat.



PS: Einen Ferien-Kalligrafiekurs mit Kindern in meine Kategorie „Krieg und Frieden“ einzusortieren, das hätte ich mir nie vorstellen können. Bis dato hatte ich mich zu diesem Komplex immer aus der Perspektive des friedvollen Zentraleuropäers geäußert. Wird nun aus der historischen Rückbesinnung eine reale Furcht? Es gibt eigentlich keine (literarische) Dystopie der Vergangenheit, die nicht schon in irgendeiner Form wahr geworden wäre, sei sie nun von Orwell oder Huxley oder wem auch immer ersonnen. Die Realität hat sich sogar in vielen Fällen als deutlich schlimmer entpuppt. Und trotzdem leben wir noch – und das gar nicht schlecht. Nur wer weiß, wie lang das noch gut geht?


PPS: Der komplette Kästnertext geht übrigens so:

„Der Ernst des Lebens beginnt wirklich nicht erst mit dem Geldverdienen. Er beginnt nicht damit, und er hört nicht damit auf. Ich betone diese stadtbekannten Dinge nicht etwa, dass ihr euch einen Stiefel darauf einbilden sollt, bewahre! Und ich betone sie nicht, um euch bange zu machen. Nein, nein. Seid glücklich, so sehr ihr könnt! Und seid lustig, dass euch vor Lachen der Bauch weh tut!“¹


¹ aus Erich Kästner, Das fliegende Klassenzimmer