Circe vergiftet das Meer

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Seit meinem Weihnachtseintrag 2021 hab‘ ich nun gut dreizehnmal das Wort Zauber verwendet. Das wäre für einen Schulaufsatz der Wiederholungen deutlich zu viel, aber im eigenen Journal darf man gelassen sein Denken beobachten und sich dann die Erkenntnisfrage stellen, die da lauten könnte: will man ernsthaft auf die Magie im Leben bauen? Wenn nein, wie wird man dann die herbeigerufenen Geister wieder los? Wie ein Zauberlehrling auf Entzug, so fühlt sich das an. Medizinisch nennt sich das „Brainfog“, wieder so ein neuzeitliches Phänomen, was einen Gefühlszustand beschreibt, wo die gewohnte Leichtigkeit futsch und der Kopf vernebelt ist, das Herz schwer wird. Womöglich, weil das abgestandene Glücks-Elixier einfach verdorben ist und nun wie ein Gift im Gemüt versickert.

Flow und Overflow – Was ist ein Denkarium?

Der Grund für das Gedöns im Kopf ist simpel: schnell hängt man sich zu viel auf und dann mündet der kreativtätige Flow womöglich in einem apathischen Overflow. Tröstlich finde ich hier eine von Joanne K. Rowlings Fantastereien: In ihrem Harry Potter Sammelsurium hat sie ein erstaunliches Behältnis ersonnen, das in der deutschen Übersetzung „Denkarium¹“ heißt: eine flache Steinschale, in der ein Teil der Gedankenlast zwischengelagert und bei Gelegenheit wieder herausgefischt werden kann. Ein Albus Dumbledore hält sich dafür seinen Zauberstab an die Schläfe um Eindrücke und Erinnerungen als silberne Fäden in die Schale abfließen zu lassen. Eine wunderbare Art mit seiner Reizüberflutung fertig zu werden. Wer hingegen nicht zaubern kann, schreibt einfach alles auf. Mein Blog ist sozusagen das Online-Denkarium des gemeinen Muggels.

¹ „Pensieve“ im Englischen = pen, pensive, sieve – geniales Kofferwort

Mein gecanceltes Weihnachtsmotiv 2022

Der als grünlich beschriebene Saft des Denkariums erinnert mich an das präraffaelitische Gemälde der Zauberin Circe. Eine Zeit lang scheint mir das schlanke Format ein passables Weihnachtsbild für dieses toxische Jahr zu sein. So ambivalent allegorisch, mit seiner vordergründigen Schönheit und hintergründigen Bösartigkeit und den daraus erwachsenden Monstern. Denn die bezaubernde Circe, in der Odyssee noch die betörende Hexe, hat hier keine guten Gedanken zusammengequirlt, sondern ein mächtiges Gift angerührt um ihre Nebenbuhlerin Skylla in ein Meerungeheuer zu verwandeln. Das ist ernüchternd, denn sie ist eine meiner Lieblingsfiguren in der antiken Mythologie, neben Ikarus tatsächlich die zweitliebste. So feierlich und plakativ das Motiv in Ausstattung und Pose auch wirkt, die Aura ist dann doch für meine Weihnachtsbotschaft zu derb. Da möchte man doch so gerne an das Gute im Menschen glauben. Letztlich scheint mir also die Madonna des Stefan Lochner als die charmantere Überbringerin. Lediglich in Wiedervorlage begegnet mir Circes Geist noch einmal zum Jahresende, als mir mein Denkarium überschwappt.


Hätte formal perfekt gepasst, wäre aber kein gutes Omen … (Bildquelle Wikimedia Commons)

„Groll hegt Circe darob, und weil sie ihn selbst zu verletzen / Weder vermag, noch liebend es will, so zürnet sie jener, / Welcher der Vorzug ward, und gekränkt durch der Liebe Verschmähung, / Reibt sie Gewächse alsbald, durch schreckliche Säfte verrufen, / Untereinander und tut zum Gemisch hekateische Sprüche.“ Ovid, Metamorphosen


Möglicherweise hat sich die englische Autorin JKR von der Kunsthistorie ihres Landes motivisch inspirieren lassen. Die symbolistischen Werke von Rossetti, Waterhouse & Co. haben ja ein gewisses Elfenpotenzial. Mit den Präraffaeliten geht’s mir wie mit den ätherischen Werken des Jugendstils. Einerseits ist mir das deutlich zu verschwurbelt, anderseits aber auf romantische Art schön und virtuos gemalt. Definitiv zu schön, um wahr zu sein. Oder besser gesagt: zu schön, um offen und ehrlich zu sein. Denn die altgriechische Mythologie ist traditionell Mittel zum Zweck. Im verklemmten Milieu kann auf diese Art jeder Doppel-Moralist in seiner erotischen Schwärmerei dezent bedient werden, es muss halt nur eine Aphrodite, eine Nymphe oder Circe sein. Omnipräsent, diese Scheinheiligkeit, da macht der moderne Kulturbetrieb keine Ausnahme. Gerade jetzt, in Zeiten der cancel culture. Aber das ist eine andere Geschichte.

So, jetzt wäre der Kopf wieder etwas leergeräumt. Hilft schon mal nur bei kleinen Nörgeleien und Wehwehchen. Großer Kummer passt ohnehin in kein Denkarium. – Deckel drauf!

Was wünscht man sich in der Silvesternacht? Nicht viel, vielleicht etwas weniger von dieser billigen Empörung, die mir die Menschen so unsympathisch macht. Ein Jahresanfang ohne dieses Betuliche, ohne diesen penetranten Moralkleister, ob woke, evangelisch oder katholisch. Amen.



PS: am Neujahrsmorgen ’23

Übrigens gestern nachmittags noch über den öden Wallfahrerweg nach Maria Eich spaziert. Für mich unerwartet: eine Open-Air-Messe zu Silvester, in stiller Atmosphäre und mit dezenter Orgel. Eigentlich will ich nur ein paar Lichter aufstellen, so muss ich in respektvoller Entfernung warten, bis alle gesegnet sind – dauert aber nicht mehr lange, man ist bereits beim Vater unser. Weil zudem die Orgel wirklich schön klingt im Waldidyll, ist das sogar sehr anrührend. Teelichte jetzt 60 Cent? Mit 20 % Aufschlag verdoppelt die Kirche also recht großzügig die Inflation für Normalsterbliche. Zum Glück sind noch drei Euro im Portemonnaie. Maries Kerze flackert in unserer Mitte.