„Das Herz ist ein einsamer Jäger“

Wolke fotografiert von Sabine


Es gibt Romantitel, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen, womöglich weil sie sich wie ein Mantra im eigenen Lebensentwurf einnisten. Das Debüt der 23 Jahre jungen Carson McCullers heißt im Originalmanuskript noch „The Mute“, der Verlag ändert das in „The Heart Is a Lonely Hunter“. Selten ist der Blick von außen – als Feedback auf das fertige Werk – so segensreich wie in diesem Fall, denn erst dieser romantische Satz verkündet den amerikanisch-literarischen Blues, der uns motiviert ein Buch aufzuschlagen. Der Mensch hat Sehnsüchte – ich kann mich nur wiederholen.

Das merke ich im Unterricht ganz besonders beim Thema Covergestaltung, wenn ich auf Bücher mit schönen, metaphorischen Titeln zurückgreife. Auch wenn viele Schüler*innen Carson McCullers‘ melancholische Erzählung nicht kennen, ist sie allein des klangvollen Titels wegen besonders beliebt. Die Jugend mag es eben, ihre emotionalen Energien ohne Umschweife zu verarbeiten. Diesen leichtsinnigen Reflex konnte ich mir selbst bisher zum Glück immer noch erhalten, doch seit einem Jahr legt sich der wehmütige Aphorismus bleiern auf mein Gemüt und als eingefrorenes Bild vor dem inneren Auge erscheint Maries hölzernes Herz, wie es stumm im Schaufenster hängt.

Ein Herz aus Lindenholz, an drei Garnbündeln weiträumig von der Decke hängend: „Ziehkraft" benennt Marie ihre Arbeit, einer ihrer fünf Beiträge zur Jahresausstellung an der Holzbildhauerschule. Die Ausstellung ihrer Klasse trägt den Titel „Sensibel“. Fünf junge Frauen mit 23 Exponaten.


Januar 2022 – Skulptur „Ziehkraft“ vor den Bildern „Grenzen des Wartens“

„Ziehkraft“ – Linde und Chirurgiegarn


Marie ist ein Wesen, das alle Sympathien auf sich zieht. Marie ist eine strahlende Schönheit, ganz ohne Eitelkeiten, eine Frohnatur voller Leben, Ideen und Tatendrang, zugleich zurückhaltend im Auftreten. Ich mag defensive Menschen und Marie hat dazu diese sanfte, leicht nervöse Aura, diese absolut wahlverwandten „good Vibrations“. Vor uns steht eine bezaubernde junge Dame mit klaren und aufmerksamen Augen, zu unserer großen Freude künstlerisch ambitioniert. Maries Skulpturen, Grafiken, Zeichnungen zeigen eine beachtliche Entwicklung über die letzten drei Jahre, seit dem Zeitpunkt, da sie in unserem Atelier Ihre Mappe sortiert. Den Plan, sich auf der Bildhauerschule zu bewerben, setzt sie hochmotiviert und mit großer Zuversicht um. Ein glückliches Bild der Erinnerung, wie sie geräuschlos durch die Räume wieselt. Alles wird akkurat in Passepartouts präsentiert, die Formulare ordentlich typografiert – so ist sie sich sicher, dass sie angenommen wird. Unsereins ist aus Erfahrung skeptisch, man hat schon so einiges erlebt im kreativen Milieu. Klappt aber.

Marie ist fortan sehr aktiv und ehrgeizig, saugt alles in sich auf und erweitert ihren Horizont. Die Titel zu ihren Arbeiten sind lyrisch und etwas rätselhaft, aber so sind junge Kreative nun mal. Wer ist nicht gerne etwas geheimnisvoll? Die gesamte Ausstellung der Klasse hat eine feine, sentimentale Note, wirkt ernsthaft und poetisch. Doch wie so Vieles in diesen sterilen Coronazeiten, bleibt eine krönende Inszenierung aus, die fürs persönliche Glück so wichtigen öffentlichen Rituale fallen aus, es gibt keine feierlichen Vernissagen. Auch der Kontakt zu uns beschränkt sich hauptsächlich aufs Digitale. Man sieht sich so selten und gewöhnt sich fatalerweise auch noch dran. Per Chat bedankt sich Marie fröhlich für Ihr Päckchen zu ihrem 23. Geburtstag am Jahresende.


Marie in der Kunstgießerei, Mai 2021


Sabine und ich wandern viel, nach wie vor. Aber jetzt suche ich gelegentlich in einem blau-weißen Himmel nach herzförmigen Wolken, die augenscheinlich seltener vorkommen als vierblättrige Kleeblätter. Als letztes Jahr im Mai über dem Weßlinger See ein fast retuschiert anmutendes Herz wie ein Gruß am Himmel steht, sehen wir es beide nicht. Sabine hat‘s nur unbewusst fotografiert, doch tags drauf beim Blättern in der iPhone-Galerie entdeckt …



In früherer Zeit wurde das Herz bedeutender Personen ja manchmal an einem anderen Ort begraben, als der vergängliche Rest. Der berühmte Gelehrte Nikolaus von Kues zum Beispiel, der es im Leben von der Mosel an den Tiber nach Rom geschafft hatte und dort bestattet ist, verfügte, sein Herz zurück nach Hause zu schicken. Maries kunstvolles Herz geht mit dem Ausstellungsende zurück in den Kreis ihrer Familie und hier kann man es in die Hand nehmen und das feine Lindenholz fühlen, so wie es Marie zuletzt selbst gespürt hat.

PUCK
„How now spirit, wither wander you?"

FAIRY
„Over hill, over dale,
Thorough bush, thorough brier,
Over park, over pale,
Thorough flood, thorough fire,
I do wander everywhere,
Swifter than the moon's sphere;

And I serve the fairy queen,
To dew her orbs upon the green.
The cowslips tall her pensioners be:
In their gold coats spots you see;
Those be rubies, fairy favours,
In those freckles live their savours:
I must go seek some dewdrops here
And hang a pearl in every cowslip's ear.

Farewell, thou lob of spirits;
I'll be gone:
Our queen and all our elves
come here anon.“