Das Leben, das Universum und der ganze Rest

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„Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, dass man in einer bestimmten Zeit geboren und in ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.“ Daniel Kehlmann – Die Vermessung der Welt

Die wahre Eroberung und Vermessung der Welt beginnt bekanntermaßen mit der Renaissance. Gutenberg und Kolumbus schaffen die Werkzeuge und Grundlagen für ein Zeitalter des Aufbruchs, des Umdenkens, des wissenschaftlichen und künstlerischen Fortschritts. Und mittendrin sitzt Dürers melancholischer Engel, zugestellt mit dem Sammelsurium seines Erkenntnisapparats und scheint für den Moment etwas überfordert, nachdenklich, sich der ungeahnten Vielfalt bewusst, aber im Ergebnis reizüberflutet. „Melencolia I“ – mein Weihnachtsengel.

1514 – Melencolia I

Wer ernsthaft über seinen eigenen Standpunkt auf der unendlichen Zeitachse nachdenkt, ist selber schuld, denn da ist schlechte Laune vorprogrammiert. Nichts gegen einen schaurig-schönen Blick in den Abgrund der Ewigkeit, aber wenn es um die dunklen Mysterien des Daseins geht, dann ist etwas geistreiche Ironie vielleicht doch die gesündere Alternative. Allerdings ist jener saloppe Stil eine Erfindung der Neuzeit und deshalb verarbeitet Dürer seine ganz persönliche Midlife-Krise noch auf streng künstlerische Weise, virtuos, rätselhaft und zwangsläufig etwas schwermütig.

Dieses Kunststück lässt sich kaum zu Ende interpretieren, denn metaphorisch und allegorisch quillt es fast über. Dürer ist ein selbstbewusster Mann, voller Fantasie und mit ungeheurem Tatendrang. Nach seinem Verständnis ist ein guter Maler „inwandig voller figuren“, ein unerschöpfliches Behältnis, das sich regelrecht entladen muss in rastloser Arbeit. Und dennoch warnt der Meister davor, die Lehrlinge zu viel üben zu lassen, weil sonst „die melecoley überhand mocht nehmen“¹. Mir scheint, dass er in diesem Werk die Zeit anhält, um den Dingen ganz genau nachzuspüren. In stiller Einkehr, spiritueller Andacht, mit einer kreativen Atempause.

Ein Gefühl wie Weihnachten? Warum nicht? Dürers Melencolia illustriert so wundervoll den verhaltenen Moment, in dem der freie Geist auch die Last der eigenen Verantwortung spürt, den Zweifel um die richtigen Entscheidungen. In der Ruhe liegt die Kraft, aber auch das seltsame Zaudern und Zagen, wie am Ende eines Jahres, wenn man im beschaulichen Rückblick doch liebend gerne wüsste, welche tödlichen Späße in Zukunft auf einen warten …

Wie auch immer, Dürers Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest ist definitiv nicht 42, sondern 34! Das magische Quadrat irrt nicht.

Besinnliche Weihnacht und ein glückliches und zufriedenes Neues Jahr 2016!



¹„Dass Zustände von Angst und Niedergeschlagenheit die Kehrseite einer allzu ehrgeizigen und perfekten Lebensplanung sein können, weiß man nicht erst heute. Bereits die antiken Naturwissenschaften, auf die Dürer und seine Zeitgenossen in allen Lebensfragen zurückgreifen, kennen und beschreiben die beklemmenden Wechselwirkungen zwischen Leistungswille und Schwermut, schöpferischer Besessenheit und niederdrückender Resignation, beschreiben sie freilich in mythischen Formen. Sie fassen die Merkmale dessen, was man heute Depression nennt, unter dem Namen Melancholie zusammen und bilden daraus sogar ein erstes psychologisches System mit eigenen Methoden der Diagnostik und Therapie. Wenn Dürer zu Beginn des geplanten Lehrbuchs die Melancholie erwähnt und vor ihrem Übermaß warnt, dann heißt das, daß er mit ihrem Begriff vertraut ist. Er geht offenbar davon aus, daß ‚Melecoley‘ eine Veranlagung und Befähigung der Künstlerpsyche mit teils positiven, teils negativen Eigenschaften sei.“

Ernst Rebel in „Albrecht Dürer, Maler und Humanist“, erschienen 1996 bei C. Bertelsmann

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