Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

Fotovorlage: AdobeStock


Der November, im französischen Revolutionskalender Brumaire = Nebelmonat genannt, ist vor allem für lebenserfahrene Erwachsene ein recht elegischer Zeitraum. Vielleicht weil man schon so viel Sentimentales darüber gelesen hat: „Im traurigen Monat November war's, die Tage wurden trüber, …“, so in der Art. Als Kind waren mir die Jahreszeiten noch alle gleich sympathisch, und der November bot mit dem Martinsumzug eine erste spannende Einstimmung auf behagliche Rituale, in einer Zeit ganz ohne Medienterror. Wenn man jetzt seine Alltagsabläufe Revue passieren lässt, ist es schwer vorstellbar, wie man damals ohne moderne Kommunikationsmittel den Tag organisieren konnte. Aber ist schnellere Datenverarbeitung grundsätzlich ein Segen?

Die persönliche Welt nimmt definitiv einen anderen Verlauf, je nachdem, welche Gerätschaften die eigene Zeit einteilen. Und ob ein Moment dabei märchenhafte Züge annimmt oder sich neutral verflüchtigt, ist reiner Zufall.¹ Folgende Situation hätte ich damals mit meinem iPhone in knapp zwei Minuten geregelt, jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach nie in Erinnerung behalten …


Trier, November '82

Eines Morgens bin ich etwas verkatert auf dem Weg zum Paulusplatz. Den Weg lege ich gewöhnlich in einer Viertelstunde zu Fuß zurück, da spricht mich eine junge Frau an. Fixiert mich mit stierem Blick, fragt mich, wo ich hin gehe. Ich sage: „Zur Schule, ähm Werkkunstschule.“ „Ich kann auch zeichnen.“, sagt sie. Ich stutze. „Kannst du mich mitnehmen?“, fragt sie weiter und wendet sich kurz ab. Die lila Hose angeschmuddelt, eine verhärmte Gestalt. Als sie sich wieder herumdreht, blicke ich in ein blasses Madonnengesicht. Jetzt bemerke ich, dass sie barfuß ist – im November!

„Mein Gott, ist dir nicht kalt?“ Ich werfe ihr reflexhaft meine dicke Zeichenmappe vor die Füße und sag‘, sie solle sich da drauf stellen. Ich frage, wo sie wohnt, und ich würde sie wohl besser nach Hause bringen. „Na gut, wenn du meinst.“ Ich versuche ein Auto anzuhalten. Irgendwann kommt ein langsamer Traktor, noch nie einen Traktor mitten in der Stadt gesehen, aber der lässt sich als einziger anhalten. „Wo haste denn die aufgelesen?“, fragt der Fahrer. Ob er sie kennt, frag‘ ich zurück. „Nee, aber die Sorte kenn‘ ich.“ Wir drei tuckern irgendwo nach Trier-Süd, der mutmaßliche Bauer und die befleckte Madonna wortlos, ich mit meiner übergroßen Mappe hantierend.

Als wir vor ihrer Wohnung ankommen, klingele ich. Ein Typ im Unterhemd macht auf, ich versuche zu erklären, er winkt ab. Die Frau schleicht wie an der Schnur gezogen in den Hausflur, gibt einen unmanierlich lauten Furz von sich und der Mann schiebt mir die Tür vor der Nase zu. Ich bleibe in der Miefwolke draußen allein zurück. Sachen gibt’s!





__________

¹ Zufall oder eventuell das, was C. G. Jung „Synchronizität“ nennt. Jung meint damit das gleichzeitige Auftreten von Ereignissen, die scheinbar keinen ursächlichen Zusammenhang haben, aber eine „bedeutungsvolle Koinzidenz“ darstellen. So entsteht eine Verbindung zwischen der eigenen Psyche und der äußeren Welt. Wir erleben auf diese Weise „sinnvolle Zufälle”, die ein besonderes Selbstverständnis ermöglichen können, indem sie auf eine vermeintlich verborgene Ordnung hinweisen, eine Ordnung, die nicht allein auf Logik, sondern auf Bedeutung basiert.

Apropos: Police hat im selben Jahr mal ein ganzes Album zu dem Thema gemacht Sychronicity I-II