„Daumenkinographie“

„Mädchen mit langem und kurzem Haar“¹
Manchmal ist es von Vorteil, wenn die Erwartungshaltung nicht groß oder, besser gesagt, nicht sehr präzise ist. Meine Freundin Monika hatte mich in die Pasinger Fabrik gelockt, weil sie den Künstler hier mit seiner Performance schon mal erlebt hatte und völlig begeistert war. Ich wusste also aus ihrer Erzählung schon einmal grundsätzlich Bescheid, hatte aber keine rechte Vorstellung, was tatsächlich passieren würde. Und das war gut so. Übrigens habe ich auch gezögert, an dieser Stelle ein Video einzubetten. Ich kann versichern, dass es sehr viel schöner ist, die Sache live zu erleben. Und zwar als Teil eines Publikums, das sich gemeinsam die Zeit nimmt, um den Augenblick zu genießen. Denn darum geht’s. Gerling fotografiert den Augenblick, zerlegt in 36 Bilder.

Pasinger Fabrik, 11.10.2025 – vor der Veranstaltung
Die Bühne ist ohne Schnickschack, mit simpler, aber erstklassiger Projektionstechnik. Volker Gerling führt damit seine kleinen Daumenkinos vor, und erzählt die Geschichte, die jeweils dahintersteht. Das Blättern erfolgt immer dreimal, um sich in Ruhe drauf einlassen zu können. Außerdem, und das ist dann schon mal eine nette Anekdote, hat er die Regel von einem wandernden Handwerksgesellen übernommen. Drei Jahre Wanderschaft bedeuten, sich im ersten Jahr daran zu gewöhnen, sie im zweiten zu genießen und im dritten Jahr sich wieder davon zu verabschieden. Gerling selbst ist seit 2002 immer mal wieder auf Wanderschaft. Er schreibt dazu auf seiner Website:
„Im Sommer 2002 baute ich aus einem alten, hölzernen Küchentablett einen Bauchladen. Sechs Daumenkinos passten darauf. Vor den Bauchladen hängte ich ein Schild mit der Aufschrift ´Bitte besuchen Sie meine Wanderausstellung´. Ich lief durch Berlin und zeigte den Menschen meine Filme. Hin und wieder wechselte ich das Programm. Unter den Bauchladen hatte ich ein leeres Honigglas geschraubt, dahinein konnten die Besucher meiner Ausstellung einen symbolischen Austritt werfen.“
Nette Idee, erst nach dem „Besuch“ der kleinen Ausstellung, zu dem der Eintritt für alle frei war, einen freiwilligen Austritts-Obulus anheim zu stellen. Die nächsten Wandertouren gingen dann über die Langstrecke, beispielsweise von Berlin bis Basel, ohne Geld, nur mit dem Verdienst aus freiwillig erbrachten „Austrittsgeldern“. Daraus wurde über die vielen Jahre ein grandioses Langzeitkonzept. So etwas berührt mich wirklich. Auch ich bin ein leidenschaftlicher Fußgänger. Mit Autofahrten und selbst mit Radtouren kann ich ehrlich gesagt nicht viel anfangen. Ich brauche das langsame Tempo, um eine Gegend zu genießen. Eines meiner absoluten Lieblingsbücher, „Deutschland umsonst“, ist so ein außergewöhnliches Fußgängerepos. Geschrieben von Michael Holzach, dem Journalisten, der schon 1980 ein Jahr lang ohne Reisegeld durch Deutschland wanderte. Von der Struktur her vielleicht ein ähnliches Projekt, allerdings ohne Kunst.
Portraits in Motion – Volker Gerling Trailer, Vimeo Upload by Aurora Nova
„Portraits in Motion“
Es ist diese kleine, charmante Bewegung, die das Poetische eines Moments wiedergibt. 12 Sekunden dauert die Aufnahme mit der analogen, motorgetriebenen Nikon. Dann ist der Kleinbildfilm mit 36 Aufnahmen durch. Die Art der Bewegung fällt sehr unterschiedlich aus, in seltenen Fällen passiert gar nichts, was wiederum witzig ist. Wie bei den Anglerjungen (Video 0:50), die stoisch in die Kamera schauen. Hier weist Gerling vor dem dritten Durchlauf auf zwei Grashalme im Hintergrund hin, das Einzige, was sich im Bild bewegt. Natürlich verrät der Fotograf seinen Models nicht, dass er eine Art Miniclip dreht. Die Leute entspannen sich nach den ersten Sekunden und der Rest ist dann völlig losgelöst von der Pose. Alte Fotografentrick, hier aber wahre Kunst.
Viel mehr sollte man jetzt auch gar nicht erzählen. Das macht Volker Gerling selbst wirklich viel besser. Wer Freude an einem entspannten, humorvollen und gelegentlich sentimentalen Vortrag hat, sollte herausfinden, wo man den Künstler demnächst live erleben kann. Es lohnt sich!
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¹ Einige wenige Daumenkinos kann man als Reprint käuflich erwerben. Die Originale, die Gerling vorführt, sind kostbare Handabzüge auf mattem Barytpapier. So, wie man das früher halt gemacht hat. ;-)
Michael Holzach Deutschland umsonst
