Fußball als Realitätsmodell?

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Im Gegensatz zum Soziologen Klaus Theweleit, der in seinem klugen Essay „Tor zur Welt – Fußball als Realitätsmodell“, den Fußball als gesellschaftliche Referenz in seinem Leben beschreibt, ist dieser Sport für mich mit dem Erwachsenwerden kein ideeller Bezugspunkt geblieben. Das teils manische Gehabe der Ultras, die absurden Millionengagen der Spieler, überhaupt der durchlizenzierte bis mafiöse Markt erschienen mir nicht gerade bewundernswert. Axel Hacke hat in seinem empathischen Buch „Fußballgefühle“ erklärt, dass er den Begriff Fußballfan gerne ersetzt durch den alten Begriff seiner (und meiner) Jugend. Damals hieß es einfach Fußballfreund, der hat nicht diese bescheuerte Tifosi-Aura und so steht es auch mehrfach in meinem alten Album.
Zwei Idole der Kindheit: die „Rookies“ Günter Netzer (mit kurzen Haaren!) und Gerd Müller
Medienzirkus und Spielsucht
Mit der Übernahme der Berichterstattung durch die werbeverseuchten Privatsender wurde mir das Palaver um den Profifußball zu theatralisch, der Leistungswille zu gierig. Das schnoddrige Sat1-Vokabular, das endlose statistische Geschwafel interessierte mich einfach nicht. Die künstlich in die Länge gezogene Sendezeit war von Anfang an das Minenfeld der nun aggressiv ausgeweiteten Werbefeldzüge, für alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Vor allem der Fußball bietet seither eine Spielwiese für das dubiose Milieu der Sportwetten. Dass sich Testimonials wie Oliver Kahn und Co. dafür hergeben, finde ich verachtenswert.
Das ist alles andere als harmlos, auch wenn es wie ein Serientrailer in perfider Manier an die pure Leidenschaft appelliert. Es geht ums Geld, ausschließlich. Die Vernunft wird hier systematisch ausgeschaltet. Wie viele junge Männer dabei aufs Glatteis und in die Spielsucht getrieben werden, ist ein Skandal! Ich hoffe, dass Vereine und Sportverbände auf der richtigen Seite bleiben und positiv, demokratisch und antirassistisch Einfluss nehmen. – Hier ein schöner Auftrag zum Thema!
Ronald Reng, 1974 – Eine deutsche Begegnung, Piper Verlag
Good Vibrations!
Mit allem versöhnlich stimmt mich der real-romantische, geschickt collagierte Stil des Buchautors Ronald Reng. Bekannt wurde er vor allem durch die Biografie des Torwarts Robert Enke und die Lebensgeschichte des Trainers Heinz Höher in „Spieltage“. Das jüngste Buch „1974“ erzählt die Geschichte der ersten in Deutschland ausgetragenen Fußball-Weltmeisterschaft. Dabei geht es nicht nur um die sportlichen Ereignisse, sondern vor allem um die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Turniers, in dessen Mittelpunkt die Begegnung zwischen der Bundesrepublik und der DDR steht. Reng verknüpft persönliche Geschichten mit dem historischen Kontext, nicht nur prominente Figuren, sondern auch ganz private Schicksale, wunderbare Charakterstudien. Darunter ein inhaftierter RAF-Terrorist, Reporter aus Ost und West, natürlich einzelne Spieler und Spielerfrauen und als kleiner Junge Matthias Brandt, der Kanzlersohn, der als erstes Kind auf die Torwand im aktuellen Sportstudio schießen durfte. Als sein Vater wegen der Guillaume-Affäre zurücktritt, ist es Bundespräsident Walter Scheel, der Franz Beckenbauer den WM-Pokal überreicht. Dennoch kann in räumlicher Nähe der junge Matthias auf der Tribüne alles live mitverfolgen und da prägt sich ihm vor allem die Physiognomie des Georg Schwarzenbeck ein.
Reng beendet sein Buch mit lakonischem Ausklang, einer unspektakulären Szene, die nur aus dem Zusammenhang und einzig aus der Perspektive des Beobachters heraus ihre Poesie entfaltet. Fast so schön wie ein Text von Carson McCullers:
„Als Matthias Brandt in den Neunzigerjahren am Residenztheater in München arbeitete, wollte er sich eines Morgens all der warmen Erinnerungen aus der Kindheit versichern, die er mit der Weltmeisterschaft 1974 verbindet. Er fuhr zu einem kleinen Schreibwarengeschäft in der Ohlmüllerstraße. Er hatte gelesen, der Vorstopper der bundesdeutschen Weltmeister, Hans-Georg Schwarzenbeck, führe nun das Geschäft seiner Tante, Schreibwaren Nitzinger. Matthias Brandt kaufte eine Zeitung, betrachtete beim Bezahlen ganz kurz Schwarzenbecks Gesicht und ging, ohne ein weiteres Wort, glücklich aus dem Laden.“
Retrogefühle Teil 1 Matchball – wie der Zufall so spielt
Retrogefühle Teil 2 Das Album 65/66
Retrogefühle Teil 3 Souvenirs 65/66