Hokusai und der heilige Berg Fuji

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„Schon mit sechs Jahren war ich davon besessen, die Form der Dinge zu skizzieren. Nach meinem 50. Lebensjahr machte ich eine Reihe von Grafiken, aber alles, was ich vor meinem 70. produziert habe, ist der Rede nicht wert. Im Alter von 73 lernte ich schließlich etwas über die wahre Natur von Tieren, Insekten, Fischen und über das Wesen der Pflanzen und Bäume. Deshalb werde ich im Alter von 86 wohl mehr und mehr Fortschritte erzielt haben, mit 90 werde ich dann noch tiefer in die Bedeutung der Kunst eingestiegen sein. Im Alter von 100 werde ich einen exzellenten Rang erreicht haben, und mit 110 werden jeder Punkt, jede Linie ein eigenes Leben haben. Ich hoffe nur, dass einige Leute so alt werden, um den Wahrheitsgehalt meiner Worte zu erkennen.“ – Hokusai, japanischer Grafiker


Katsushika Hokusai, wurde in der Tat knapp 89 Jahre alt, was zu seiner Zeit eine bemerkenswerte Leistung ist. Japans Weltstar unter den Malern und Grafikern, geboren 1760 in Edo (Tokyo), war also an der Grenze zu seinem 70. Lebensjahr, als er zwischen 1830-31 die Welle von Kanawaga schuf – demnach kann man aus seiner Einschätzung dieses Werk in seiner Qualität gelten lassen.

Anfang des Jahres habe ich einen Schüler in der Klasse, der ein T-Shirt mit der Kanagawa-Welle auf dem Rücken trägt. Darüber kommen wir ins Gespräch, dann setzt bei mir die selektive Wahrnehmung ein und in den folgenden Tagen ist die Kunst des japanischen Farbholzschnitts wieder so omnipräsent ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Speziell Hokusai ist mir vor allem durch die illustren Texte von Horst Janssen bekannt. Im Studium noch kaufe ich mir bei der Trierer Buchhandlung Behrens zwei sehr schöne Arbeiten von Kunichika sowie Hiroshige und später von einem der ersten Gehälter eben zwei Blätter aus Hokusais „Hundert Ansichten des Berges Fuji“. In der Galerie gegenüber dem Haus der Kunst klärt mich die Inhaberin auf, dass man Hokusai ohne „u“ ausspricht, also „Hocksai“. Die falsche Aussprache muss ich mir dann erst wieder abgewöhnen.



Mein persönlicher Japonismus beginnt im Jahr 1984 – Links: Toyohara Kunichika, 1883, oben der Blick auf den Shinobazu-Teich und unten der Schauspieler Kikukoro als Okime. Ein typisches Holzschnittpanel mit Sprechblasen. Rechts: Utagawa Hiroshige, 1885, die Ohashibrücke über dem Senjufluss im Mondlicht.


Ukiyo-e¹ – Bilder der fließenden Welt

Die Begeisterung für diesen Grafikstil kommt nicht von ungefähr, sie ist schlicht das Ergebnis unserer Sozialisation. Der japanische Farbholzschnitt, insbesondere die Ukiyo-e-Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts, hat einen tiefgreifenden Einfluss auf die klassische Moderne. Drucke von Künstlern wie Hokusai und Hiroshige werden in hohen Auflagen produziert und sind auch in Europa, insbesondere in Paris, leicht zu erwerben. Von dort aus prägen diese Arbeiten mit ihren flächigen Kompositionen, kühnen Farbkontrasten und reduzierten Perspektiven eine Ästhetik, die westliche Künstler wie van Gogh, Monet und Degas nachhaltig inspiriert. Das passiert allerdings auch umgekehrt. Der Osten schaut sich nämlich einiges von der europäischen Zentralperspektive ab, die Malerei und Grafik des Westens hingegen löst sich wieder davon, betont die Linie und dekorative Flächen.

Unverkennbar entsteht durch diesen Einfluss auch das Genre des Comic Strips, in der Betonung klarer Linien, dynamischer Kompositionen und der Verwendung von Panels, die an Holzschnittserien erinnern. Japanische Drucke bieten genau die erzählerische Struktur, die für den visuellen Rhythmus moderner Comics typisch sind. Auch im modernen Design spiegelt sich der Einfluss japanischer Ästhetik wider: Klare Formen, Minimalismus und der gezielte Einsatz von Negativraum, werden zu Grundprinzipien des Bauhaus-Stils und der funktionalistischen Designbewegung. Der japanische Farbholzschnitt ist somit eine kulturelle Brücke, die sowohl Kunst als auch Popkultur und Gestaltung nachhaltig prägt. Crossover, ein Multikulti-Austausch von Ost und West. Ukiyo-e, alles fließt.


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¹ „ukiyo-e“ besteht aus den Wörtern ukiyo und e, wobei „e“ für Bild oder Gemälde steht. Ursprünglich bezeichnete „ukiyo“ die „vergängliche, irdische Welt“.

Die gewaltige Welle und der Fujiyama

Auch wer mit japanischer Grafik nichts anfangen kann, kennt zumindest diese Welle. Das Motiv ist dennoch keineswegs ausgelutscht, was daran liegen mag, dass hier eine auf den ersten Blick einfache Sache mit vielen Facetten und einer gewissen Tiefe eine Fülle von Assoziationen auslöst, im Guten wie im Bösen. Wie jedes gute Kunstwerk ist seine Aussage ambivalent, seine Interpretation an die Launen der Zeit gebunden. Diese Offenheit und Deutungsvielfalt machen das Bild zeitlos, einerseits klischeehaft, andererseits massentauglich und weltberühmt – so funktioniert Popkultur.


Die große Welle vor Kanagawa, Japanischer Farbholzschnitt von 1830–1832 im Nationalmuseum Tokio aus der Serie „36 Ansichten des Berges Fuji“. Bildquelle: WikimediaCommons

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Hokusais Welle ist ein eingängiges Motiv, das uns in unserer individuellen, bewegten Gefühlswelt abholt. Das bewegte Leben ist ein Sehnsuchtsmotiv und gleichzeitig der wunde Punkt. Die Dinge sind automatisch im Fluss, Veränderungen geschehen von selbst, auch ohne unser Zutun. In der bildenden Kunst ist Wasser ein gängiges Symbol. Von romantisch plätschernden Bächen über still und starr ruhende Seen bis hin zu verheerenden Sturmfluten. Fließende Welt, dieser Begriff klingt freundlich, meint aber auch das unaufhaltsame Fortschreiten der Zeit und unsere eigene Endlichkeit. Überall auf der Welt haben Menschen ähnliche Vorstellungen. Der buddhistische Begriff „Ukiyo“ ist vergleichbar mit unserer christlichen „Vanitas“, der Eitelkeit, ein Wort, das ursprünglich nichts anderes bedeutet als eben Vergänglichkeit.

Schon als Kind begegnet mir Japans höchster Berg, der zauberhafte Schneevulkan Fuji, in einem Werbe-Comic, dem „Lurchi-Heft“. Hier springt der reiselustige Salamander mit einem japanischen Papierschirm aus dem Flugzeug und landet werbewirksam mit seinen Markenschuhen in Schnee und heißer Asche. Ein Nostalgiebildchen, wiedergefunden im Bücherregal der eigenen Kinder.


Sorry, aber diese bunte Kindheitserinnerung muss sein ;-) Foto: HHE


Aber Spaß beiseite – Im Shintoismus wird der extravagante Fuji an Ort und Stelle mit über 1.300 Schreinen als heiliger Berg verehrt. Auch im Buddhismus steht seine Besteigung für ein tiefes Glaubensbekenntnis. Und auch alle nichtreligiösen Menschen bewundern die perfekte Kegelform des Fuji – er gilt von Natur aus als der schönste Berg der Welt.

Hokusai verwendet in den „36 Ansichten des Berges Fuji“ ausgiebig Preußischblau, eine Farbe, die jeder von uns noch aus seinem Pelikanmalkasten kennt. Preußischblau verdankt seinen Namen der Entwicklung in einem Berliner Labor, Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Dieser synthetische Farbstoff ist sehr viel günstiger als Indigo oder gar Ultramarin und hat zudem aufgrund seines großen Hell-Dunkel-Spektrums deutlich mehr Tiefe. Die dynamische Welle im Vordergrund und der entfernte Fuji im Hintergrund schaffen durch viele Abstufungen eine Raumtiefe nach europäischer Luft- und Zentralperspektive. Motiv und die Technik des Farbholzdrucks sind typisch japanisch.


Die „36 Ansichten des Berges Fuji“ waren so erfolgreich, dass Hokusai die Mappe um weitere zehn Arbeiten erweiterte, allerdings ohne den Titel zu ändern. Lediglich die noch umfangreichere Buchausgabe mit Schwarzweiß-Drucken erhielt dann den Titel „Die 100 Ansichten des Berges Fuji“.

Die Kunst ist ein freilaufendes Huhn

Was den eingangs erwähnten, ebenfalls genialen Zeichner Horst Janssen an Hokusai fasziniert haben wird, ist auch dessen exzentrische Seite. Eine hartnäckig überlieferte Anekdote erzählt von seinem Talent als – heute würde man sagen – Performancekünstler. Am Hofe des Shoguns entschied Hokusai einen Malwettbewerb für sich mit einem sehr witzigen Einfall. Während die Konkurrenz lange und sorgfältig an ihren Werken arbeitete, färbte Hokusai schlicht eine Papierrolle blau, tauchte die Füße eines lebenden Huhns in rote Farbe und ließ es dann wild über die Rolle laufen. Fertig war das Bild „Ahornblätter treiben auf dem Fluss“. Der Shogun war so beeindruckt von Hokusais Kreativität, dass er ihm den Preis verlieh. Sofern das nicht stimmt, ist es gut erfunden. Wahr ist jedenfalls, dass die fernöstlichen Zeichenschulen ganz gezielt mit diesen blumigen Beschreibungen arbeiten. Das man bestimmte Zweige „in Form einer Sperlingskralle“ malt (siehe rechts unten), steht beispielsweise genauso in dem berühmten Lehrbuch der chinesischen Malerei, dem „Senfkorngarten“.


Zwei Seiten aus dem „Senfkorngarten“, einer methodischen Zeichen- und Malschule aus dem 17. Jahrhundert. Weitere Textbeschreibungen zu den Blattformen oben: „ … wie ein liegender Kahn, … wie eine Mondsichel, … wie eine Krähe, … wie eine Wildgans im Flug, … wie zwei Wildgänse, die zusammentreffen, … wie eine Krähe und eine Wildgans, die zusammentreffen.“ Foto: HHE

Die Ähnlichkeit der Dinge

Der praktische Hinweis auf die Formenverwandtschaft in der Natur ist nicht nur hilfreich in der Lehrmethodik, sondern auch effektvoll in der künstlerischen Anwendung. Die Ähnlichkeit der Dinge wird in Hokusais berühmten Druck regelrecht zelebriert. Schnee und Schaumkronen haben das gleiche Muster, der Gipfel des Fuji findet seinen Zwilling in einer fast identischen Welle diagonal im Vordergrund, und die Gischt des Wassers wird zu Schneeflocken, die auf den Gipfel fallen.


„Die Intelligenz besteht darin, dass wir die Ähnlichkeit der verschiedenen Dinge und die Verschiedenheit der ähnlichen erkennen.“ – Montesquieu (1689-1755)



Inspiration statt Imitation – vom Austausch kultureller Ästhetik

Seit dem Gymnasium begleitet mich die Aussage von Hokusai über das quasi ewige Leben für und durch die Kunst, geleitet von dem Vorsatz, sich Tag für Tag zu vervollkommnen. Inwieweit diese fernöstliche Erhabenheit einen beglückt, ist die Frage. Die Exotik eines anderen Kulturkreises kann sehr inspirierend sein, aber es wäre anmaßend, seine Formensprache zu imitieren, anstatt sie mit Respekt zu verinnerlichen und etwas Neues daraus zu machen.

So ging es mir zum Beispiel, als der „Zauber“ des Feng Shui in meinen Beruf Einzug hielt und alle Farben eines Corporate Designs nach ihrer angeblichen Energie und Aura zugeordnet werden sollten. Farben haben in diversen Kulturkreisen auch diverse Bedeutungen – allein die Farben Schwarz und Weiß haben in Japan und Deutschland eine gegensätzliche Symbolik. Der Quatsch war eben nichts anderes als Esoterik, aufgesetzt und oberflächlich und schnell wieder weg vom Fenster.

Die Bedeutung japanischer Grafik auf die Kunst der klassischen Moderne ist hingegen evident. Am deutlichsten sieht man den Einfluss bei van Gogh. Er hat den japanischen Funken für ein ganz eigenes Feuer benutzt und damit unter allen modernen Malern ein Alleinstellungsmerkmal. In seinem einzigartigen Pinselstrich ist die japanisch-lineare Einfassung der Farbflächen zwar unverkennbar, aber in einem völlig neuen, eigenen Stil. Im urheberrechtlichen Kontext würde man von „Schöpfungshöhe“ sprechen und die ist bei van Gogh sozusagen konkurrenzlos.

Nicht zu vergessen Aubrey Beardsley, der sich in seiner Kunst wie kein anderer an der japanischen Grafik orientierte und sich dennoch absolut originell und zur eigenen Marke entwickelte.


links: Vincent van Gogh, „Blick auf Arles“ – rechts: Aubrey Beardsley, „Siegfried“


Es lohnt sich einfach, gute Bilder mit Muße zu betrachten, länger zu schauen, intensiver darüber nachzudenken. Man könnte sich jetzt, am Ende des Jahres, Zeit nehmen für Kunst, die einen persönlich berührt. Nicht immer dieses Ex und Hopp, schnell was runtergeschluckt und dann gleich weiter zum nächsten Event. Weniger ist mehr, sagt der Designer in mir. Aber davon abgesehen will ich im Prinzip gar nicht viel – wenn es gut ist. Vor Hokusais Welle kann ich so wunderbar sinnieren, Anekdotisches und Symbolisches entdecken. Vor allem aber Gegensätze: das Flüssige und das Feste, das flüchtige, fließende, ja tosende Leben im Vordergrund und ganz hinten der ewige Berg.

Und bei der Gelegenheit hole ich mir auch wieder meine Originaldrucke aus der Schublade. Zwar professionell gerahmt, die Passepartouts aber leider stockfleckig geworden – hab' ich retuschiert ;-) Über die „100 Ansichten des Berges Fuji“ gibt es ein Bibliophiles Taschenbuch: das geschäftige Treiben rund um Edo, in der Stadt, auf dem Land und an der Küste. Alles wird zur Kunst. Am Ende ist es eine Bildergeschichte. Liest sich fast wie Max und Moritz, nur viel poetischer.


Blatt Nr. 88 aus den „100 Ansichten des Berges Fuji“ – Der Fuji von der Schiffswerft aus gesehen

Von leichter Hand – die Schönheit im Unvollkommenen

Im letzten Jahr hatte ich mich schon in einem Blog-Beitrag mit der Leichtigkeit des Designs befasst und darin von fernöstlicher Ästhetik, beispielsweise die eines japanischen Zen-Gartens, geschwärmt. Das „Unvollkommene“ steht hier nicht für Nachlässigkeit in der Arbeit, sondern für Demut im eigenen Übereifer. Eine gewisse Coolness, von mir aus auch Bescheidenheit, die Ruhe in den Workflow und das eigene Leben bringt. Und damit zurück in meine kleine Welt!

Wenn’s geht, löse ich mich gerne von Ernsthaftigkeit, Perfektion und Disziplin. Witzig und von leichter Hand skizziert, also eher wie bei Wilhelm Bush, so sollte mein Lebensentwurf aussehen. Klappt aber nicht immer. Nun bin ich an einem Punkt angelangt, an dem mir bereits der Statuserhalt genügt. Der jugendliche Leichtsinn und die kindliche Erfahrung, dass jede Veränderung auch eine Verbesserung ist, lassen sich ja nicht ewig aufrechterhalten, irgendwann scheint das Glück aufgebraucht. Dann könnte es sich heimlich, still und leise, mehr oder minder aus dem laufenden Betrieb heraus, in eine altersgemäße Zufriedenheit verwandeln. In ein behagliches Dasein wie beim Lehrer Lämpel – nur ohne dass die Pfeife explodiert. Ein frommer Wunsch, zugegeben.

Besinnliche Weihnacht und ein glückliches und zufriedenes Neues Jahr 2025!

Kleine Chronik Weihnachtskarten seit 2015