Ikarus

Bildquelle Wikimedia Commons (Ausschnitt)


In der siebten Klasse kommt eine neue Kunstlehrerin an unsere Schule und weil die ganz cool ist, melden sich viele zur freiwilligen Kunst-AG am Nachmittag. Einmal gibt es als Vorgabe ein klassisches Thema: die Sage von Dädalus und Ikarus. Keine Ahnung, was wir da pinseln sollen, überall großes Rätselraten. Auf Nachfrage bekommen wir dann eine kleine Einführung, was sich anfangs ganz gemütlich anhört. Aber Frau Tuschinsky, die wirklich so heißt, kann gelegentlich mit ihren großen Augen recht streng über ihre Hippie-Brille hinwegblicken. Sie geht durch die Reihen und echauffiert sich etwas zu doll über den leichtfertigen Sohn, den halbstarken Rotzlöffel, der den genialen Fluchtplan so elend scheitern lässt und so den armen Vater in die Depression treibt. Das kommt fast vorwurfsvoll rüber, so von oben herab, als hätten wir was verbockt. Dass dieser Vater in seiner Vorgeschichte ein Mörder aus niedrigen Beweggründen ist, erzählt sie nicht.

Dass Dädalus nämlich einen hochbegabten Schüler aus Neid einfach mal vom Dach gestoßen hat und genau deshalb von den Göttern bestraft wird, muss man selbst herausfinden. Doch auch ohne dass wir den Sachverhalt kennen, sagt uns der Instinkt fürs Gerechte: irgendwas ist faul an der Moralstory. Empörung wirkt aufs Publikum eher unsympathisch und macht skeptisch. Wer ist mehr zu bedauern, der Hinterbliebene oder das Opfer? Als heranwachsender Mensch fühlt man sich sehr getroffen, wenn Gleichaltrigen was passiert. Es gibt so Momente, da entdeckt man spontan eine Art Generationen-Trotz, spürt gleichzeitig den Stolz und die Verletzlichkeit der eigenen Jugend. Eben dann wird so ein Ikarus stellvertretend zum tragischen Helden. Bei mir hat sich an dieser Einstellung bis heute nichts geändert und so bleibt der freifliegende Ikarus meine mythologische Lieblingsfigur.



PS: 25. August 2022 – Der Ikarus von Andreas Kuhnlein

Heute, genau vor einem Jahr: Mitten in der Woche, in der beklemmenden Jobflaute der Pandemie, ist ein Sommertag lang und so können wir nach unserer Seenwanderung direkt am Parkplatz noch in Ruhe die Ausstellung im Weßlinger Pfarrstadl besuchen. Das stilvoll renovierte Gebäude passt wunderbar zu Kuhnleins expressiven Skulpturen. Die Location wäre an sich viel zu entlegen, aber augenscheinlich gibt es am Ort Verbindungen zu diesem berühmten Bildhauer. Und weil es hier einen besonders imposanten, hohen Freiraum zur oberen Galerie gibt, hat Kuhnlein eigens für diese kleine, feine Ausstellung einen wundervollen Ikarus gefertigt und von der Balkendecke stürzen lassen. Das sieht im erlebten Raum zehnmal eindrucksvoller aus, als ich das mit meinem Smartphone dokumentieren kann.

Ein kunstsinniger Ausklang des Tages und Sabine kauft schon mal den Ausstellungskatalog als Präsent für Maries Geburtstag, auch wenn der erst im Dezember ist.