Кант – Фаренгейт 451


Wenn etwas interessant und berühmt, aber dennoch sehr rätselhaft ist, dann bin ich von Berufs wegen spontan empfänglich für ein sich selbst entzündendes Assoziationsfeuerchen. Bei Kant dauert es nie lange, bis man beim Lesen ins Stocken gerät, sich am Kopf kratzt, gar einschläft¹ – oder an was anderes denkt. Als nun das Titelblatt wie von Geisterhand zu kokeln beginnt, habe ich sofort Ray Bradbury im Verdacht. Davon können auch die kyrillischen Buchstaben nicht ablenken, die wiederum mit der geografischen Lage der ehemals preußischen Metropole zu tun haben müssen und sich per Drag and Drop schnell entschlüsseln lassen. Ich geb’s zu: Meine alternde Fantasie begnügt sich immer mehr mit der Abschweifung, dystopische Tendenzen inbegriffen.

Man darf ja durchaus bezweifeln, ob die Ideale der Aufklärung im allgegenwärtigen Konsum- und Medienterror beim gemeinen Volk überhaupt noch von Interesse sind. Auch die sogenannte Elite ist blödsinniger denn je. Dafür gibt es so ärgerlich viele Indizien. So hat zum Beispiel der Vorsitzende einer konservativen Volkspartei kürzlich seine Basis gefragt, was sie denn konkret unter Freiheit verstehe und bekam unter anderem zur Antwort, Freiheit bedeute, ganz simpel „mit dem eigenen Auto Gas geben zu können, ohne Tempolimit.“ – Armes Deutschland! Lieber Immanuel, hättest du dich nicht etwas klarer ausdrücken können?

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¹ Beim „Einschlafen-Podcast“ schon immer ganz vorne mit dabei: „Die Kritik der reinen Vernunft“


Die „Kritik der reinen Vernunft“ ist das einzige Werk Kants, das zu lesen ich wirklich und ehrlich redlich bemüht war. Was nicht viel zu sagen hat, denn die beschämende Rückfrage, ob ich das auch alles verstanden habe, kann ich nur kategorisch ;-) mit Nein beantworten.

Philosophische Klimmzüge sind mir schnell zu hoch. Beispielsweise kann ich mir schlecht einreden, dass sich die Dingen nach meiner Vorstellung richten, wie in Kants „Kopernikanischer Wende“ formuliert. Ich sehe mich da eher den Dingen gegenüber ausgeliefert. Dann bedauere ich sehr, dem Abstrakten oft genug nicht folgen zu können – eine Schwachstelle meiner durchschnittlichen Intelligenz, die ich im Bereich der Zahlen-Mathematik als Schüler zum Glück schon früh erkannt und kompensiert habe. Aber auch im kanonischen Wissen, das sich ja hauptsächlich aus Buchstaben zusammensetzt – und mir deshalb eine trügerische Sicherheit vermittelt – lauern böse Fallen. Urplötzlich diese beklemmende, klaustrophobische Erfahrung zwischen den monotonen Seiten, selbst für einen geübten Bücherwurm. Man windet sich von Satz zu Satz und verheddert sich unversehens im Gedankengestrüpp fremder Leute, ohne Aussicht auf eine tiefere, möglicherweise praktisch verwendbare Erkenntnis.

Dabei hatte mich mein Freund Heine früh genug gewarnt, eben vor dem „steifleinernen Stil“ des Immanuel Kant. Weil nun Heines Essay über den schwer zugänglichen Königsberger besonders geschmeidig zu lesen ist, hier im verlinkten Text ein Auszug, als konspirative Umleitung sozusagen, eingeleitet von Heines berühmtesten Aphorismus über Kant:


„Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben.
Denn er hatte weder Leben noch Geschichte.“


Ein beschwingtes Gehirn, dass aus seinem Käfig entfleucht – naja …



Nun aber: Alles Gute zum 300. Geburtstag!

Briefmarken sind ja manchmal kleine Kunstwerke, die Jubiläumsmarke zu Kants Geburtstag ist etwas albern ausgefallen. In der Grafik erinnert mich der Stil an Monty Python’s Flying Circus. Vielleicht in dem Bemühen, dem nüchternen Kautz aus Königsberg einen heiteren Akzent mitzugeben. Man sagt allerdings, dass jener in seinen tagtäglichen Tischgesellschaften tatsächlich eine Art Humor gehabt haben soll. Wie auch immer, das Motiv hat eine charmante, leicht verständliche Botschaft, eigentlich genau das, was ich mir unter Kommunikationsdesign vorstelle: Storytelling auf kleinstem Raum, für unter einem Euro – muss man auch mal wertschätzen.

Den motivierenden Sinnspruch könnte allerdings so mancher schräge Vogel falsch verstehen. Der eigene Kopf sollte natürlich im Sinne der Aufklärung stets sozial und gesellschaftlich kompatibel sein. Sicher ist damit nicht das Querdenkermilieu gemeint. Alles lässt sich leicht erklären, wenn man den kategorischen Imperativ voranstellt. Genau so war er ja mal gemeint.


Kants Grabmal in Kaliningrad wird gesäubert (Foto. AdobeStock)


Das ehemals preußische Königsberg heißt schon sehr lange Калининград und hat sich im Jubeljahr natürlich auf kulturelle Feierlichkeiten vorbereitet. Der Diktator höchstpersönlich würdigt Kant als großen deutschen Philosphen und russischen (?) Untertan. Gut ins Bild passt der unten abgebildete Tragebeutel, mit dem ironischen oder sogar zynischen Spruch МНОГО НЕ ДУМАЙ – ТЫ НЕ КАНТ. Dabei grafisch ganz passabel: Kant zeigt auf einen einsamen Sowjetstern, mehr ist vom bestirnten Himmel wohl nicht übriggeblieben. Dass in Putins Reich eigenständiges Denken und Handeln nicht sonderlich hoch im Kurs stehen, setzt diesen banalen Streuartikel in ein eigenes Licht. Auch angewandte Kunst ist ja grundsätzlich frei, mitunter politisch oder gar verräterisch.


Foto: AdobeStock


Jedenfalls müssen die Kaliningrader nun allein feiern, die westliche Welt lässt sich zu einem verlogenen Spektakel ins Kriegsrussland nicht einladen. Man trifft sich stattdessen bei uns in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn. Das freut mich sehr, denn hier habe ich, unweit der Museumsmeile, gleich neben dem Erich-Ollenhauer-Haus der SPD das Gymnasium besucht und daran angenehme Erinnerungen!

„Zum ewigen Frieden“

Klingt nach Friedhofscafé, und tragischerweise schließt Kant einen Friedhofsfrieden gar nicht aus, also eine Zukunft ohne nennenswerte Menschheit am bitteren Ende, sollte man militärisch zur totalen Vernichtung irgendwann mal in der Lage sein – und das sind wir ja nun schon eine ganze Weile. Wenn also schon so lange und in derart intellektueller Tiefe davor gewarnt wird und es genügend friedliche Konzepte zum Wohle der Menschheit gibt, weshalb dann diese dumme Zerstörungswut? Oder anders gefragt: hat das literarisch-philosophische Brimborium überhaupt einen nachhaltigen Effekt? Jedes Jahr am 10. Mai gibt es in München eine Gedenkveranstaltung mit Lesung der von den Nazis ins Feuer geworfenen Texte. Mehrere Stunden viele sehr gute Gedanken, Warnungen, Kritiken von berühmten Namen aus Belletristik und Journalistik. Man ist beeindruckt von soviel intellektueller Vordenkerei und gleichzeitig ernüchtert darüber, wie wenig die Geisteselite der Machergreifung entgegensetzen konnte, wie sang- und klanglos all diese Edelfedern im Naziterror zerbrochen sind.


München, Königsplatz am 10. Mai 2014


Ohne praktische Macht ist die Philosophie eine politisch nutzlose Kunst. In der Regel halten sich die Intellektuellen beim Machstreben vornehm zurück oder ganz raus. Hat das vielleicht sogar etwas mit akademischer Arroganz zu tun? Aber auch wir Normalos müssen uns fragen, warum wir eigentlich immer den Menschen in den Rücken fallen, die bemüht sind, ihre Macht im Guten zu nutzen? Nur weil es sich im Rechtsstaat so billig und unbehelligt herumstänkern lässt?

Kants Spätwerk vom ewigen Frieden kenne ich nur aus Zusammenfassungen. Alsdann: was kann ich wissen? Darin stehen so berühmte Sätze, wie der, dass kein Staat sich einen anderen einverleiben darf, überhaupt angreifen darf, ja dass ein stehendes Heer grundsätzlich eine illegitime Bedrohung der Nachbarstaaten darstellt. Der letzte Satz betrifft uns alle, die ersten beiden sind eher etwas für Cäsarenwahnsinnige vom Schlage Putins. Darüber hinaus erfindet Kant ein Gremium, das den künftigen Weltfrieden anstrebt und überwacht und nimmt damit die Idee der UNO vorweg, die sehr viel später als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg verwirklicht wird und schon wieder in Gefahr ist. Größte Gedankenpest unserer Zeit ist das identitäre Geschwurbel, diese bizarre Rückbesinnung auf „überlieferte“ Werte – da können sich die orthodoxen Religionsfundis aus aller Welt mit unseren Stammtischbrüdern und -schwestern aus regionalem Anbau die Hand reichen. Alle postulieren sich als Hüter einer Moral, die stets auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Aus heutiger Sicht ist Kant zuletzt selbst auf seiner moralischen Schmierseife ausgerutscht. Wer in seiner Zeit- und Gesellschaftsblase einen noblen Verhaltenskodex entwirft, ist nicht davor gefeit, später und bei genauerem Hinsehen als Rassist dazustehen. Dass Kant Menschen mit schwarzer Hautfarbe für minderwertig hielt, ist bekannt. Manch einer weiß aber auch nur das und hält sich deshalb den schwer zugänglichen Rest des Philosophen gerne vom Leib. Dabei hat der große Kopf nur einen kapitalen Denkfehler begangen, nämlich nicht seinen eigenen Verstand benutzt, sondern einfach die dummen Ansichten von Kolonialbonzen und Sklavenhändlern nachgeplappert. Hier rächt sich der beschränkte Horizont des Stubenhockers. Mit der Empirie hat es Kant nicht so. „Reine Vernunft“ eben, das heißt: „ohne Zuhilfenahme von Erfahrung“. Und, was mich als Augenmenschen besonders interessiert, wo bitte bleibt die eigene Anschauung? Beruhigend und zweifellos ist bei Kant am Ende für jedes Sinnesorgan etwas dabei – emotionale Fehleinschätzungen inklusive.

Schön, dass der alte Kant sich und uns noch eine goldene Brücke baut:



„Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist,
kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“