Inventur im Club der toten Dichter und Denker

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„Wir haben die Lande gemessen, die Naturkräfte gewogen, die Mittel der Industrie berechnet, und siehe, wir haben ausgefunden: daß diese Erde groß genug ist; daß sie jedem hinlänglich Raum bietet, die Hütte seines Glückes darauf zu bauen; daß diese Erde uns alle anständig ernähren kann, wenn wir alle arbeiten und nicht einer auf Kosten des anderen leben will; und daß wir nicht nötig haben, die größere und ärmere Klasse an den Himmel zu verweisen.“ Heinrich Heine, 1836

Es wird erzählt, man habe die Werke des Aristoteles in der antiken Bibliothek von Rhodos in einer bestimmten Reihenfolge einsortiert: vorne die naturphilosophischen Bücher, dahinter (griechisch „meta“) die über die Physik hinausgehenden Theorien, die man darum fortan „meta ta physika“ nannte. Wer weiß, ob’s stimmt, aber so hatten die Dinge schon mal ihre literarische Grundordnung. Überhaupt: kein schlechtes Bild, sich die Welt als Bibliothek vorzustellen. Ein stetig wachsender, unendlicher Speicher von Beschreibungen, Hypothesen und Beweisführungen, ein Gedächtnis der menschlichen Erfahrung und Erkenntnis. So faszinierend, dass sich mancher gar nicht mehr auf die reale Welt einlassen mag, die im metaphysischen Sinne genauso virtuell ist wie ein Computerspiel – eine Projektion, eine Vorstellungswelt eben.

Möglicherweise behandelt Carl Spitzweg genau dieses philosophische Thema in seinem Bild vom Bücherwurm. Was wiederum nur meine Wahrnehmung hergibt – aber bleiben wir einfach mal dabei. Ich könnte dieses Motiv mit oberflächlichem Interesse konsumieren und als banales Genrebildchen einordnen. Ich muss ja nicht unbedingt eine Botschaft herauslesen, doch ich kann die Beschriftung am Regal bemerken und beim Begriff der Metaphysik hängen bleiben. Und wenn ich erst mal spekuliere, um was es in diesem virtuos gemalten Bücheruniversum geht, vollzieht meine Vorstellung die gewünschte kopernikanische Wende und aus dem verpennten Kauz im dunklen Hinterzimmer wird auf einmal ein hellwacher Geist um den sich die Welt seiner subjektiven Erkenntnis dreht.

Dann steht er wie ein Ausrufezeichen im freien Raum, der alte Zausel, im diagonal einfallenden Licht der Aufklärung, ganz oben auf einer steilen Himmelsleiter, deren Höhe man nicht ermessen kann. Eine unbewegte Figur, seltsam entspannt trotz akrobatischer Verrenkungen, mit der sie die Weisheit zwischen allen Gliedmaßen eingeklemmt. Ein selbstvergessenes Individuum vollführt einen geistigen Klimmzug: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?


Der vergeistigte Büchernarr hat in seinem Habitus sicher etwas gemeinsam mit dem Weltweisen aus Königsberg: „Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben“, schreibt Heinrich Heine in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, „denn er hatte weder Leben noch Geschichte.“


Dieser häusliche Mensch wagt sich hoch hinaus und es gibt keinen Grund ihn zu belächeln, auch wenn er einen etwas entrückt-blöden Gesichtsausdruck macht, denn er ist einer von den Guten im Lande der Dichter und Denker. Ein Pantheist? Ein Freigeist? Ein Lichtbringer? In jedem Falle ist er einer unserer politischen Vorfahren und in seinem Kopf entsteht womöglich gerade die Vorstellung von einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Kann aber auch sein, dass alles ganz anders ist. Sorry – seit Immanuel Kant ist es ja amtlich: jeder Mensch hat seine eigene Sicht der Dinge. So bleiben alle Angaben wie immer ohne Gewähr. In der Kunstbetrachtung war das übrigens schon immer so.

Besinnliche Weihnacht und ein glückliches und zufriedenes Neues Jahr 2015!


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