Joseph Beuys, Jahrgang '21

Foto: IMAGO / Sven Simon


Die Aura des Joseph Beuys ist immer noch beachtlich, wenngleich sich der Nebel um ihn herum so langsam verzieht, denn maßgebliche Legenden, die er selbst um sich herum gefilzt hat, haben sich nun mal als Hirngespinste entpuppt. An Beuys wird dennoch immer das Schamanenhafte kleben bleiben, was am 60er-Jahre-Fluxus-Gedöns liegt mit dem alles angefangen hat – eine Performance ist dem Wesen nach ein Jahrmarktsspektakel, wird über das Theatralische gern zum Mythos. Da mag man scheinheilig die Erbauung seitens des Publikums zurückweisen, die Leute machen’s trotzdem. So ist die menschliche Natur, man folgt andächtig, wohnt staunend dem Ritual bei, lässt sich erschrecken oder verzaubern. Der Kunstmarkt arbeitet wie der Finanzmarkt mit Schall und Rauch. Und so gehört die geheimnisvoll umgebaute Biografie notwendigerweise zum Konzept, weil sie sowohl der Einstimmung auf die Kunst, als auch zu deren Werterhalt beträgt.

In „Werk ohne Autor“, ein beeindruckender wie umstrittener Film über den Beuys-Schüler Gerhard Richter, werden entsprechend noch mal schnell beliebte Beuys-Mythen inszeniert. Aber jetzt, wo sein Lebenswerk in der Welt ist, funktioniert es natürlich auch ohne die Tataren-Fake-Story.


1969 – The Pack (Das Rudel)

Vorweg gleich mein absolutes Lieblingszitat von Beuys, dass ich gerne ab und zu selbst benutzen würde, wenn’s für einen Gebrauchsgrafiker nicht doch zu riskant wäre. Künstler*innen sind ja per se viel patziger, denn sie müssen das in Gang gesetzte Palaver auch über sich selbst ergehen lassen, wenn besonders Engagierte sich ins rezipierte Werk hineinfantasieren und dann einen mit eigenen Ideen behelligen, sozusagen als Verständnisnachweis. Man sieht beispielsweise diesen VW-Bus mit hinten heraushängenden Holzschlitten, festgebundenen Filzrollen und Taschenlampen: eben eine typische Beuys-Installation. Und der Meister wird gefragt, ob es denkbar sei, die Schlitten durch Kinderwagen zu ersetzen. Lakonische Antwort: „Dat können Sie ja dann machen.“


„BEUYS“, di Andres Veiel, 2017 – Der Trailer zeigt in schneller Bildfolge fast alles, was einem zu Beuys in knapp zwei Minuten so einfällt. Wie bei der Sendung mit der Maus: „Heute – mit einem toten Hasen, einem VW-Bus mit heraushängendem Schlittenrudel, einem wilden Coyoten und siebentausend Eichen.“ – Das war Deutsch.


1974 – I like America and America likes me

Beuys spricht ein wahrhaft teutonisches Englisch, als er, am Broadway angekommen, dem Publikum seine Unternehmung erklärt: eine Woche zusammen mit einem wilden Coyoten in einem Raum, mal sehen, was passiert. Das gibt schöne schwarzweiß-Bilder und hat etwas Existenzielles, wie sich der Mann vom Niederrhein mit Stock und Hut, in Filzdecken eingerollt mit dem Krankenwagen vom Airport in die Galerie einliefern lässt, gewappnet gegen das wilde Tier – alles sehr mythologisch. Davon erfahre ich als möglicher Zeitzeuge leider noch nichts. Im Jahr 1974 kommt dazu sicher was auf „aspekte“, die Sendung gibt’s ja schon ewig. Ist mir aber rückblickend nicht präsent. Ich muss erst mal auf die höhere Schule wechseln, um für Kunst und Kultur heranzureifen.


1976 – Zeige deine Wunde!

Zum Glück kann ich ein nordrhein-westfälisches Gymnasium besuchen und dabei auch noch der erste Jahrgang sein, dem ein Kunst-Leistungskurs im Abitur geboten wird. Unser Lehrer heißt Schneider und hat zusammen mit Joseph Beuys studiert – so unterschiedlich verlaufen Karrieren. Zur selben Zeit nämlich, als wir in der Oberstufe unsere Paul-Klee-Käsekästchen malen, verkauft jener ehemalige Kommilitone meines Kunsterziehers dem Münchner Lenbachhaus für unglaubliche 270.000 Mark seine später berühmte Installation „Zeige deine Wunde“, was öffentlich große Empörung auslöst; weil man sich wohl den Materialwert des Arrangements zusammenrechnet und als teuersten Sperrmüll aller Zeiten verbucht. Ende 1984 bin ich fertig mit dem Studium, ziehe ins kunstsinnige München und lerne die beklemmenden Requisiten aus der Nähe kennen. Aber der Reihe nach …

1982 – Sonne statt Reagan!

Anfang der Achtziger ist Beuys selbst zum alten, kunsterklärenden Hasen geworden. Unsereins genießt sein Studium, was nur am Rande mit den Dingen zu tun hat, die auf einer Biennale oder der documenta fabriziert werden. Herausragend jedoch ist Beuys‘ Projekt der „Stadtverwaldung“ mit 7.000 Eichen. Eine langfristig angelegte „ökologische Intervention“. Mit dem NATO-Doppelbeschluss kommt US-Präsident Reagan zu Besuch nach Deutschland und der engagierte Aktivist Beuys, immerhin Gründungsmitglied der Grünen, performt im populären Milieu einer Musiksendung namens „bananas“ zusammen mit Bandmitgliedern von „BAP“. Der Guru der deutschen Kunstszene hantiert unbeholfen mit dem Mikro und singt: „Doch wir wollen Sonne statt Reagan, ohne Rüstung leben! Ob West, ob Ost, auf Raketen muss Rost!“ Wer ihm wohl diese kindischen Verse getextet hat? Niedecken hat damit erklärtermaßen nix zu tun. Trotzdem ganz amüsant.

Und ja, ein paar Wochen später, habe ich dann sogar eines von diesen „Multiples“ in der Hand – so nennt man die preiswerten Serienexponate fürs Volk. Da helfe ich nämlich unserem Kölner Professor ein paar Sachen ins Auto tragen, unter anderem eine kleine Holzkiste, mit Bleistift in deutscher Kurrent beschriftet und signiert. „Davon können se jetzt halten wat se wollen, aber dat is ein echter Beuys“, bekomme ich vorsorglich mahnend erklärt. Augenscheinlich errät er in meinem fragenden Blick die klassisch-despektierliche Frage, ob das jetzt Kunst ist, oder …

1999 – Finale: Leonardo da Vinci vs Joseph Beuys

Als Bill Gates der Königin von England eine Sammlung von Leonardo-Manuskripten abkauft, ist ein Teil daraus im Haus der Kunst zu sehen: „Der Codex Leicester im Spiegel der Gegenwart“ – diese Gegenwart wird vertreten von Joseph Beuys selig. Dessen Witwe hat den Kuratoren eine Mappe mit Zeichnungen und Schriftzetteln übergeben, um sie im Lichte der Renaissance zu veredeln. Ein gewagtes Kontrastprogramm, und die kunstführende Expertin gerät bei ihrem Plädoyer entsprechend in Beweisnot. Außerdem spricht sie beharrlich von den „beiden Genies“. Was Beuys wohl selbst davon gehalten hätte, wenn zur selben Zeit ein Leonardo im Raum ist?


Joseph Beuys, * 12. Mai 1921 in Krefeld, † 23. Januar 1986 in Düsseldorf

Geständnis: Diesen Beitrag habe ich im April 2022 fertig geschrieben und erst dann auch online gestellt. Man möge mir diese kleine „Logbuchfälschung“ verzeihen, wenn's überhaupt jemand gemerkt hat. Leider fehlte mir im Jahr 2021 oft die Motivation. Aber den hundertjährigen Beuys einfach zu übergehen, ist mir auch nicht möglich. München, 15. April, Leonardos Geburtstag ;-)

PS: zum 13. Mai 2022
Heute hat bereits der nächste große Mann seinen hundertsten Geburtstag …
Blogeintrag Otl Aicher, Jahrgang '22