Jugendstil – Made in Munich

In der Ausstellung am 2. Weihnachtstag 2024


Gelegentlich muss man sich im Design für den flüchtigen Wert von Schönheit rechtfertigen, weil der Begriff als beliebig und geschmacksabhängig gilt und ungern als logisches Argument akzeptiert wird. Ich habe zu diesem Thema sogar eine extra Landingpage verfasst, um nach Bedarf selbst nachzulesen zu können, sollte ich doch noch an der Sache zweifeln. Und in der Tat stellt mich der Jugendstil auf eine Probe, wenn ich durch die aktuelle Ausstellung gehe und fürchte, dass hier wieder einmal alles zu schön ist, um wahr (gewesen) zu sein. Ich habe mich oft gefragt, ob dieses Misstrauen vielleicht damit zusammenhängt, dass man die wunderbare Kunst des Jugendstils nicht losgelöst sehen kann, von dem was zeitlich danach passiert, wenn der schöne Traum platzt.

Flowerpower und Weltuntergang

Man glaubt an die gesunde Stärke des Neuen, an Lebenslust und geistige Frische – und alles endet in einer Katastrophe. Daran ist der Jugendstil nicht schuld, aber seine Beschwörungsformel verspricht mehr, als sie halten kann. Das magische Dreieck aus reformerischem Naturalismus, Ornamentik und leidenschaftlichem Symbolismus reicht selbstverständlich nicht aus, um die Menschen vor dem Untergang zu bewahren. Der Zauber verliert in nur zwei Jahrzehnten seine ganze Kraft, erlischt für immer. Die Kunst hat mit ihrer äußeren Schönheit eben keine Macht, wenn die Lebenswirklichkeit verrückt spielt. Der Erste Weltkrieg setzt der Schönheitsrevolte ein ebenso radikales Ende.


Magisches Dreieck oder „Triangle of Sadness“? – Für mich beginnt der Jugendstil als Gymnasiast mit einem wundervollen Buch, dass ich mir Woche für Woche anschaue, bis ich es dann für viel Geld endlich kaufe. Oben links das Cover mit der noblen Prägung. Zum Thema Schönheit

Vor ziemlich genau drei Jahren hatte ich noch fabuliert, dass ich für das kommende Jahr 2022 ein richtig gutes Gefühl hätte, denn Corona inklusive Geschäftsflaute hatte man stoisch verkraften können. Doch noch im Januar zeigt sich das Schicksal kalt und herzlos. Von da an mache ich mir keine Illusionen mehr, und umso irritierender sind die Déjà-vus mit dem Jugendstil, der wie keine andere Epoche Leichtsinn, naiven Optimismus und melancholische Fantasien in sich vereint.

Kunst kann uns tatsächlich beflügeln, aber ich würde mich nie darauf verlassen. Genau so erkläre ich das auch meinen Schüler*innen. Weil ich weiß, wie verletzlich der junge Mensch in seinem kreativen Eifer ist, wie gering die individuellen Chancen am Kunstmarkt sind und wie wenig die freien Künste mit der Mechanik der Welt zu tun haben, deshalb zählt für mich nur das Design. Wie zum sündigen Trotz hängt hier Peter Behrens‘ Frühwerk „Der Kuss“ an der Wand. Der Jugendstilmaler wird einmal einer der wichtigsten industriellen Gestalter seiner Zeit, der Erfinder des Corporate Design.


Peter Behrens, Der Kuss, Farbholzschnitt, 1898

Die Vereinigten Werkstätten

Jetzt hätte ich fast den epochalen „Modern Style“ pauschal als Upperclass-Culture verunglimpft, wenngleich das überwiegend auch so ist und deshalb von allen Designschulen nach dem Weltkrieg abgelehnt wird. Aber pragmatische, ökonomische Ansätze gibt es auch schon im Jugendstil.

Zu diesem Zweck schließen sich in München Kunst, Kunstgewerbe und Handwerk zu einer leistungsfähigen Interessengemeinschaft zusammen. Die Vereinigten Werkstätten München bieten seit ihrer Gründung 1998 das, was man später Design nennen wird. Einzigartige Lösungen für anspruchsvolle Innenarchitektur, aber auch einfache und bezahlbare Möbel für den Alltag. Damit grenzt man sich bewusst vom elitären „Arts and Crafts“ aus England und Schottland ab, das eine Rückbesinnung auf völlig überholte und schlicht unbezahlbare Handwerkstraditionen forderte. Die Vereinigten Werkstätten nutzen modernste Produktionstechniken und liefern sogar schon Möbelbausätze à la IKEA, zum Beispiel ein sogenanntes „Junggesellenzimmer“. Mit einigen Unterbrechungen besteht die Gemeinschaft in ihrer ursprünglichen Form bis 1991.

Dass die Münchner auf einen „Zuagroasten“ wie mich manchmal etwas arrogant wirken, liegt vielleicht daran, dass sich hier auch ziemlich beeindruckende Dinge ereignet haben ;-)


Kunstschaffende als Frühwarnsystem?

Neulich höre ich zum ersten Mal von der „canary in a coal mine theory“ des amerikanischen Autors Kurt Vonnegut. Das ist weiß Gott keine wissenschaftliche Theorie, der Mann war schließlich Satiriker, eher eine metaphorische Beobachtung. Jeder im Ruhrpott kennt das: Kanarienvögel wurden früher mit unter Tage genommen, um vor gefährlichen Gasen zu warnen. Und für Vonnegut sind Künstler und andere sensible Menschen eben solche „Kanarienvögel“ im Gesellschaftssystem:

„Manchmal habe ich mich gefragt, welchen Nutzen die Künste haben. Das Beste, was mir einfiel, war, was ich als die „Kanarienvogel in der Kohlegrube Theorie der Künste“, bezeichne. Diese Theorie besagt, dass Künstler für die Gesellschaft nützlich sind, weil sie so sensibel sind. Sie sind überempfindlich. Sie kippen um wie Kanarienvögel in giftigen Kohlegruben, lange bevor robustere Typen erkennen, dass überhaupt eine Gefahr besteht.“ ¹

Übrigens, weil es noch so schön ins Bild passt: aus Florian Illies‘ Buch weiß ich, dass Caspar David Friedrich nebenbei ein leidenschaftlicher Züchter von Kanarienvögeln war. Der kauzige Maler arbeitete extrem zurückgezogen, in einem bewusst kargen Atelier und in andächtiger Stille. Zu hören war wohl nur ein leises Zwitschern. Man sagt ja, die hohen Töne beglücken das Herz.



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Blog-Artikel über Heinrich Vogeler Schön ist die Jugend



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¹ „I sometimes wondered what the use of any of the arts was. The best thing I could come up with was what I call the canary in the coal mine theory of the arts. This theory says that artists are useful to society because they are so sensitive. They are super-sensitive. They keel over like canaries in poison coal mines long before more robust types realize that there is any danger whatsoever.” Kurt Vonnegut (1922-2007)