Bad Vibrations

„Maskottchen“ des Simplicissimus von T. T. Heine


Die Beach Boys hatten mit Good Vibrations ihren für mich coolsten Hit. Dabei geht der Titel auf eine Kindheitserinnerung des Bandleaders Brian Wilson zurück. Bei der Begegnung mit einem aggressiven Hund erklärt ihm seine Mutter die Sache mit den „Vibes“. Möglicherweise würde der Hund andere Leute gar nicht anbellen, es liege stets an den eigenen Schwingungen. Das dürften sich heute auch die Delegierten im Münchner Bayerischen Hof gefragt haben, als US-Vize Vance mit seinen aggressiven Phrasen hinter dem Rednerpult räsonierte. Devise: immer souverän bleiben! Und als Reaktion darauf vernehmlich zu knurren war schon mal ein Anfang. Dank an Boris Pistorius!

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Lee Miller, Photographer, 1907-1977

Quelle Wikimedia Commons


Lee Miller taucht in der Kunstgeschichte zuerst am Rande auf, als Model, Muse, Gefährtin und Assistentin von Man Ray, steht wie manche andere Frau im Schatten einer männlichen Berühmtheit. Allerdings verfügt Lee Miller neben ihrer Begabung als Fotografin und Texterin zusätzlich über eine absolut erstaunliche Antriebskraft und innere Unruhe, die sie einerseits in höchste Gefahr bringt, letztlich aber zu einer der wichtigsten Journalistinnen im Weltkrieg II macht. Lee Miller durchmisst mit ihrem jungen künstlerischen Leben das gesamte Spektrum von Kunst, Boheme und mondäner Modewelt bis tief in das grauenhafteste Szenario des Krieges.

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Die Theorie der Dummheit

KI-Foto: AdobeStock


„Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit“, so Ödön von Horváth in der Einleitung zu seinen berühmten „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Der österreichisch-ungarische Literat verstand Dummheit als Stumpfheit und narzisstische Kommunikationsstörung, die sich in selbstgefälligen Phrasen und absurder Logik mitteilt. Man würde sich wünschen, so schlimm wie zu Horváths Zeit wäre es heute nicht mehr – leider ist es viel schlimmer.

Am Ende bekommt jedes Volk die Regierung, die es verdient, heißt es zynisch. In Demokratien stellt sich derzeit die Frage, wer das Volk vor sich selbst oder zumindest die eine Hälfte vor der anderen in Schutz nimmt, oder abstrakter formuliert, wer ein auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität angelegtes Gesellschaftssystem vor groben Missbräuchen bewahrt. Nun haben sich in den USA die größten Kotzbrocken an die Spitze dieser übergeschnappten Maga-Bewegung gesetzt und das Volk ist im Freudentaumel. Wie konnte man diese eklatante Rückständigkeit nur übersehen?

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Кант – Фаренгейт 451


Wenn etwas interessant und berühmt, aber dennoch sehr rätselhaft ist, dann bin ich von Berufs wegen spontan empfänglich für ein sich selbst entzündendes Assoziationsfeuerchen. Bei Kant dauert es nie lange, bis man beim Lesen ins Stocken gerät, sich am Kopf kratzt, gar einschläft¹ – oder an was anderes denkt. Als nun das Titelblatt wie von Geisterhand zu kokeln beginnt, habe ich sofort Ray Bradbury im Verdacht. Davon können auch die kyrillischen Buchstaben nicht ablenken, die wiederum mit der geografischen Lage der ehemals preußischen Metropole zu tun haben müssen und sich per Drag and Drop schnell entschlüsseln lassen. Ich geb’s zu: Meine alternde Fantasie begnügt sich immer mehr mit der Abschweifung, dystopische Tendenzen inbegriffen.

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Heine über Kant – 1834

Heine 1831 – Bildquelle Wikimedia Commons


Heine gilt als einer der ersten deutschen Dichter, die allein von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit leben. Als Journalist begründet er im Pariser Exil maßgeblich den modernen Feuilletonstil und erklärt auf seine Art den Franzosen die Geschichte der Deutschen und deren ambivalente Mentalität. Die leicht ironische Note sollte nicht über die klar-analytischen Sicht der Dinge hinwegtäuschen. Am Ende des oben genannten Buches erwartet uns eine düstere Prognose auf den germanischen Furor:

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Narr und Winterkönig*in

Bildquelle Wikimedia Commons


„Wenn es weiter so schneite, dachte sie, würde morgen alles mit Weiß bedeckt sein, und die Rückfahrt nach Den Haag könnte schwierig werden. War es für Schnee nicht viel zu früh im Jahr? Wahrscheinlich würde dafür bald schon irgendein bedauernswerter Mensch dort unten am Pranger stehen. Und dabei liegt es an mir, dachte sie. Ich bin doch die Winterkönigin!

Sie legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund, so weit sie konnte. Das hatte sie lange nicht getan. Der Schnee war noch so süßlich und kalt wie einst, als sie ein Mädchen gewesen war. Und dann, um ihn besser zu schmecken, und nur weil sie wusste, dass in der Dunkelheit keiner sie sah, streckte sie die Zunge heraus.“ – Daniel Kehlmann, Tyll, 2017

Zum Jahreswechsel noch ein kleines Schneetreiben! – Weil die so vielfach porträtierte böhmische Winterkönigin exakt die illustre Figur ist, die noch perfekt in meine Wer-bin-ich-Serie passt und da ich zuvor Banksy als neuzeitlichen Eulenspiegel bereits ausführlich behandelt habe, nun also zur anderen Sphäre der Gesellschaft und zu einem ganz besonderen Exemplar der Selbstdarstellung. Diese ungewöhnliche Frau hat Daniel Kehlmann in seinem vorletzten Roman „Tyll“ zur literarischen Ikone gemacht. Davon ausgehend ist das kunsthistorische „Profiling“ ein Kinderspiel.

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Calligraffiti in dunklen Zeiten

Erster Versuch einer Neunjährigen


Wenn man erwachsene Kinder hat, ist die Erinnerung an Kindergeburtstage ganz weit weg. Dass solche Events aber auf die Kondition gehen, weiß man noch. Allein die Geräuschkulisse verlangt eine gewisse „Resilienz“, wie man heute sagt. Wenn sich nun ein Kalligrafie-Workshop mit dem Format Kindergeburtstag kreuzt, ist die oben genannte Münchner Ferienfreizeit mit 9 bis 11-Jährigen ganz gut beschrieben. Die acht Stunden werden mit Spielpausen, beaufsichtigt durch Betreuer*innen, aufgelockert. Es ist lustig, überraschend, lehrreich, anstrengend und auch anrührend.

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Und ruhig fließt der Rhein

Blick vom Drachenfels auf Nonnenwerth


Die Dinge bestimmen unser Verhältnis zur Welt. Der Mensch definiert sich radikal neu, seit er sein Leben nicht mehr nach dem natürlichen Licht, sondern nach einem Ding wie der Uhr ausrichtet. Zudem markiert der Entwicklungsstand von Technik und Medien eine emotionale Trennlinie zwischen den Generationen. Man mag sich noch so digital-logisch bemühen, ist der Antrieb dem Geburtsjahr zufolge analog-sozial-romantisch, wie in meinem Fall, dann bleibt er auch so. Aus meiner glücklichen Kindheit wirken darum zwei Dinge nostalgisch nach. Das ist zum einen ein warmtönendes Radio und zum anderen eine Küchenuhr mit ihrer eigenen Darstellung vom Lauf der Zeit.

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In Flanders Fields


Der Königsplatz hat schon ein ganz besonderes Flair, erhaben und bizarr zugleich in seinem typischen Wittelsbacher Klassizismus. Seit Wochen entsteht auf den Wiesenflächen eine wundervolle Installation. Heute nun die Gedenkveranstaltung anlässlich des 100. Jahrestages des Endes des Ersten Weltkrieges. Im Mittelpunkt steht jetzt diese Kunstaktion mit 3.400 Klatschmohnblumen, die als Symbol für die gefallenen Soldaten und die Schrecken des Krieges stehen. Die rote Farbe der Mohnblumen, die in einem Meer auf dem Platz verteilt sind, erinnert an das vergossene Blut und die Opfer, die der Krieg gefordert hat. Eine kraftvolle, wenn auch entlehnte Metapher, die dazu einlädt, innezuhalten und über die Bedeutung von Frieden und Erinnerung nachzudenken.

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1648 – Lang erhoffte Friedenstaube

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Fünf Jahre schließlich dauert der Kongress zu Münster und Osnabrück. Im Ergebnis wird der Westfälische Frieden die maßgebliche diplomatische Referenz für alle späteren Konflikte in Europa. Selbst aus heutiger Sicht ist der Vertragsumfang monströs und detailverrückt. Da fällt einem spontan die Stammtisch-Parole von der europäischen Überregulierung ein. Ein absurder, aber immer wiederkehrender Vorwurf an ein normales Vertragsgefüge. Denn wie bitte sollen alle Interessen gewahrt werden, wenn man sie nicht glasklar definiert und verbindlich aufschreibt? Die so flapsig geforderte Großzügigkeit beim Abfassen von Verbindlichkeiten bezieht sich auch meist auf die Interessen der Anderen. Die eigenen Anliegen dagegen hat man gerne ausführlich getextet, in Schwarz auf Weiß, um sie getrost nach Hause zu tragen. Die Forderung nach simplen Konzepten zeugt vom Unverständnis für das komplizierte zivile Leben – wenngleich die ein oder andere Unternehmensberatung genau das vorschlagen würde. Im Falle des Westfälischen Friedens ist auch leider keine win-win-Situation mehr drin.

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