Kult(ur) der Eiszeit

Die Deutsche Post hat auch in diesem Jahr wieder sehr schöne, kleine Kunstwerke zum kleinen Preis, beispielsweise zu 95 Cent, die kann sich jeder leisten. Ich kaufe dann immer einen ganzen Batzen, damit ich meine Weihnachtsbotschaft auf analogem Wege verteilen kann. Die Weihnachtsmotive für Briefmarken sind allerdings selten ohne Heilige Familie zu haben, doch es gibt Alternativen: Das Design mit den eiszeitlichen Artefakten finde ich sehr gelungen. Zumal es auf mein Weihnachtsthema „Skulptur“ prima einstimmt. Außerdem mache ich mir immer mal wieder Gedanken, was denn nun den Menschen zuerst künstlerisch beschäftigt hat, Grafik, Malerei oder Bildhauerei?

Die Vielfalt der kleinen Fundstücke und deren letztliche Auswahl ist auf der Blockausgabe sehr gut gelöst. Ein vollständiges Exemplar kommt in meine Vitrine, den Rest muss ich zum Frankieren leider zerstören – sorry.
Mutmaßliche Nachweise liegen seit einigen Jahren sozusagen vor der Haustür! Die sechs Höhlen der Schwäbischen Alb, in denen unter anderem Figuren wie der „Löwenmensch“¹ und filigrane Tier- und Frauenstatuetten aus Mammutelfenbein entdeckt wurden, zählen zu den ältesten Zeugnissen menschlicher Kunst und wurden deshalb von der UNESCO als Welterbe anerkannt. Diese Funde zeigen, dass bereits vor rund 40.000 Jahren Menschen in Mitteleuropa plastisch gearbeitet und hochentwickelte bildhauerische Techniken genutzt haben. Im Verhältnis zur späteren Bildhauerei der Kunsthistorie markieren die Objekte einen Ursprungspunkt: Sie belegen, dass das künstlerische Bedürfnis, Figuren zu formen, Symbolik auszudrücken und dreidimensionale Materialien zu gestalten, seit den frühesten Zeiten ein grundlegender Bestandteil menschlicher Kultur ist.
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¹ im Briefmarkenblock, mittlere Reihe, ganz rechts
Die älteste Skulptur der Menschheit
Ein Löwenmensch? Schwer zu glauben. Aber gerade die Archäologie beweist uns – beispielsweise mit diesem Corpus Delicti –, dass vor einigen zehntausend Jahren, dort, wo heute die Bundesrepublik liegt, tatsächlich sogenannte Höhlenlöwen lebten. Die unten abgebildete Figur aus der Altsteinzeit ist ca. 40.000 Jahre alt, etwa 31 cm hoch, gefertigt aus Mammutelfenbein.
Der Löwenmensch aus der Stadel-Höhle im Hohlenstein, Lonetal.
Bildquelle links Dagmar Hollmann / Wikimedia Commons Lizenz: CC BY-SA 4.0,
rechts Dagmar Hollmann / Wikimedia Commons Lizenz: CC BY-SA 4.
Im Zauberkreis – Der Mensch und die wilden Tiere
Die Motive der Eiszeit – sei es in Form von Grafik, Malerei oder dreidimensionalen Figuren – zeigen vorwiegend Tiere wie Pferde, Wisente, Mammuts, Hirsche und Rentiere. Daneben finden sich in geringem Umfang abstrakte Symbole wie Punkte, Linien und Gittermuster sowie menschliche Darstellungen, die sich oft auf Handabdrücke und einzelne Körperteile beschränken. Sofort stellt sich die Frage nach den Beweggründen für das künstlerische Tun, – aber warum eigentlich? Warum wird hier überhaupt eine Erklärung gebraucht oder besser gesagt eine Legitimation eingefordert?
Man behilft sich damit, dass man die eigene Weltanschauung auf die Vorfahren überträgt und dann den Sinn und Zweck der Kunst mit dem mutmaßlichen Alltagsleben in Einklang zu bringen versucht. So könnte man spekulieren, dass die Menschen der Eiszeit ihre Kunst aus ganz verschiedenen Gründen schufen: zur symbolischen Kommunikation, beispielsweise für die Jagd, zur Weitergabe von Wissen an zukünftige Generationen, für rituelle Zwecke und möglicherweise wegen eines tiefen Bedürfnisses nach Selbstausdruck. Am naheliegendsten aber ist, dass der Mensch sich einfach gerne beschäftigt. Am liebsten, ohne dabei sein Leben zu riskieren.
Vielleicht ist es gar keine Kunst, sondern einfach ein meditatives Spiel des Homo ludens, der sich am Ende des Tages entspannt seinen Gedanken hingibt. Meiner Meinung nach ergibt sich aus unserer kulturbeflissenen Perspektive gerne eine etwas überkandidelte Einschätzung. Warum reden wir immer gleich von Kunst, wenn etwas so aussieht, als wäre es von Picasso, aber zehntausende Jahre älter ist? Ich halte die Hypothese, dass der Mensch der Eiszeit hier, unter anderem, seine Jagd nachspielt, für absolut glaubhaft. Hier kann er so tun, als ob – außerhalb der Realität und damit außer Gefahr. Psychologen vergleichen diesen mentalen Zustand mit dem Betreten eines Zauberkreises. Warum sollte der Mensch der Eiszeit also nicht einfach seinem spielerischen Glücksgefühl gefolgt sein? Denn irgendwie musste der Überlebenskampf ja auch psychisch kompensiert werden.
In der Psychologie verwendet man gerne das bedrohliche Bild des eiszeitlichen Säbelzahntigers, der in unserem Gemüt Spuren hinterlassen hat. Das limbische System unseres Gehirns ist extra für solche Horrorszenarien eingerichtet. Mit der irrationalen, aber wirkmächtigen Angst vor wilden Tieren erklärt man heute die lästigen Panikreflexe, die beispielsweise Lampenfieber auslösen – auch wenn ein Publikum selten lebensgefährlich ist. Und wiederum ist in der Psychotherapie die Beschäftigung mit Kunsthandwerk sehr erfolgreich. Das modellierende Arbeiten mit den Händen, insbesondere also das Kneten und Formen, hat nachweislich eine sehr heilsame Wirkung auf unser Nervensystem. Diese mentale Ausleitung von jedwedem Stress scheint also immer noch zu funktionieren.
Apropos Die binomische Kunstformel
Doch was war nun zuerst da? Nach heutigem Forschungsstand spricht vieles dafür, dass Skulpturen mindestens gleichzeitig, oder sogar etwas früher als die ältesten bekannten Höhlenmalereien entstanden sind. Ein Beispiel hierfür sind die Malereien in der Chauvet-Höhle, die mit einem Alter von etwa 32.000 bis 36.000 Jahren deutlich jünger sind als die Figurenfunde von der Schwäbischen Alb. Es ist allerdings möglich, dass ältere Malereien schlicht nicht erhalten geblieben sind, da organische Pigmente schneller vergehen als Elfenbein oder Stein. Außerdem ist da noch die etwa 45.000 Jahre alte Zeichnung eines Schweins in einer indonesischen Höhle auf der Insel Sulawesi. Noch 5.000 Jahre älter als der schwäbische Löwenmensch! Der Archäologie zufolge scheint zumindest in Europa das plastische, bildhauerische Arbeiten älter zu sein als die Höhlenmalerei.
Ich persönlich kann mir leicht vorstellen, dass plastisches Arbeiten aus dem täglichen Handwerk heraus spontan entsteht und eher dem motorischen Reflex folgt, als grafisches Abstrahieren im Zweidimensionalen. Und damit bin ich bei meiner Heroine zum Jahresende. Man sagt, dass Camille Claudel schon als Kind wie von selbst begonnen hat zu modellieren, vom Tag an, als sie auf dem Grundstück ihres Elternhauses Tonerde fand.
… ab 15.12.2025 Camille – Sternbild Schütze



