Matchball – wie der Zufall so spielt

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Rote Asche und der heilige Rasen von Wembley
Zwar sind 1966 schon längst die modernen schwarz-weißen Bälle im Einsatz, weil das Design mit sechseckigen und fünfeckigen Patches für die SW-Fernsehübertragungen deutlich besser ist. Doch England, das Mutterland des Fußballs, besteht bei seiner WM noch auf den klassischen, braunen Lederball. Einen echten, genähten Fußball mit Gummiblase hat kaum einer von uns Jungs. Deshalb bin ich sehr stolz, als ich dieses englische Teil geschenkt bekomme. Allerdings ist der Ascheplatz eher schädlich, die schöne Oberfläche ist schnell zerschrakelt. Und dann hat man auch die Angewohnheit sich in Spielpausen draufzusetzen. Danach eiert das Ding und lässt sich nie wieder in Form bringen. Die Liebe zum Fußball ist also objektfixiert und selbst ein „Legionär“ wie Haller wird in der Not zum kleinen Jungen, der in kindlichem Instinkt seinen Ball mit nach Hause nimmt.
Die Partie England-Deutschland wird von uns Dorfjungs für den Rest des Jahres oft im eigenen Milieu nachgespielt. Man nimmt das verfluchte 4:2 respektvoll an und entwickelt für die englischen Idole dieselbe Achtung. Möglicherweise sogar mehr, denn Bobby Moore, Geoff Hurst und Gordon Banks sind eine Bereicherung für die eigene Rollenverteilung auf dem Bolzplatz.
Die Mutter aller Niederlagen
Als prägendste Niederlage im deutschen Fußball gilt gemeinhin der traumatische Schlussakkord von ManU, die dem FCB in der Nachspielzeit mit zwei schnellen Toren den sicher geglaubten Sieg in der Champions League „raubten“. Mein Erstgeborener war beim Bayern-Desaster 1999 etwas älter als ich selbst im Jahr 1966 – so hat jeder sein kindliches Sporttrauma. Meins geht eher auf Wembley zurück. Das Gute daran: man hat bereits kurzfristig nicht mehr viel damit zu tun, weil an solchen äußeren Ereignissen nichts wirklich bedeutsam ist für das eigene Leben. Für die eigene Gefühlswelt bleibt nur die gelassene Erinnerung an ein Pseudodrama – man erlebt etwas tragisch Sensationelles, nimmt aber keinen Schaden. Und später kann man andere, ähnlich unbekümmerte Leidensgenossen darauf ansprechen. Ein Türöffner und dankbares Smalltalk-Thema.
Alles in allem habe ich eine romantische Erinnerung an die Niederlage der deutschen Elf gegen die Engländer. Als Uwe Seeler und seine Mannen der Queen nacheinander höflich und bescheiden die Hand schüttelten, hatte das etwas Sympathisches. Als letzter in der Reihe verabschiedet sich Helmut Haller von der Monarchin und hat dabei den Spielball unter den Arm geklemmt. Dem Schützen des ersten Endspiel-Tores steht angeblich diese Souvenir zu. Niemand weiß, ob er sich dieses Ritual selbst ausgedacht hat, aber der stark abgenutzte „Challenge 4 Star“ wird Jahrzehnte später eine wertvolle Devotionalie des englischen Fußballs. Nützt aber alles nix.
Foto: IMAGO / Horstmüller, Aufnahmedatum 30.07.1966
„Il Biondo“, Leginonär in Italien, geht als Balldieb in die Fußballhistorie ein und die Engländer müssen 30 Jahre warten, bis der Endspielball anlässlich der EM 1996 seinen Weg zurück nach London findet. Diese EM trägt den legendären Titel „Football’s coming home“. Germany schlägt England im Halbfinale, gewinnt das Endspiel, lässt sich die Stichelei gegen den Erzrivalen nicht nehmen und grölt den offiziellen Song schließlich auf dem Balkon des Frankfurter Römers … So many jokes, so many sneers ;-)
„Je planmäßiger der Mensch vorgeht, desto wirkungsvoller
trifft ihn der Zufall.“ Friedrich Dürrenmatt
Besser kann man den modernen Fußball nicht erklären, auch wenn das wohl kaum in Dürrenmatts Absicht lag. Die klassische Reporterfrage an den Favoriten, der da so sensationell verloren hat: „Wie konnte das passieren?“, wird gerne spontan damit beantwortet, man könne sich das nicht wirklich erklären, aber so sei Fußball. Und das ist ebenso hilflos wie weise definiert. Denn was sich der Arroganz des Profis grundsätzlich entzieht, im aktiven Sport selbst wie in der Berichterstattung, ist der Zufall, der allem innewohnt, insbesondere wenn ein rollendes Element im Spiel ist.
Die Irritation, um nicht zu sagen die Ungläubigkeit gegenüber dem Prinzip Zufall hat letztlich etwas Religiöses. Denn zu viele Zufälle hintereinander erscheinen uns seltsam und verlangen nach einer rationalen Erklärung, die sich spontan aber ganz oft nicht findet. Und so ist man ersatzweise schnell bei einer übersinnlichen Deutung. Atheisten schauen dann immer kariert, wenn man sie fragt, ob sie nun etwa doch an Gott glauben? Schon Jean Paul hat sich darüber empört, wenn Menschen nicht an das göttlich-harmonische Prinzip glauben, sondern daran, dass uns der strukturlose Zufall regiert. Was den ängstlichen Blick in das chaotische Getriebe der Welt betrifft, so verweise ich gerne auf eine meiner Lieblingsgeschichten über „Flitcraft und den blinden Zufall“.
Flitcraft und der blinde Zufall
Der Ball ist rund
Zurück zum Fußball und dem Phänomen, dass der Favorit nicht zwangsläufig gewinnt, sondern unter Umständen haushoch verliert, weil er aus heiterem Himmel mehrere „dumme“ Tore hintereinander kassiert und die Nerven verliert. Das mag daran liegen, dass hier wie beim Roulette eine Kugel im Spiel ist. Und die Kugel – als äußerst instabiles Vehikel – steht nun mal exemplarisch für das Prinzip Zufall. Ein Ball prallt in einem zufälligen Winkel ab, wird vom Winde verweht oder mit einem seltsamen Drall auf bananenkrumme Bahnen geschickt. Das kann mit oder ohne Absicht geschehen. Ein sicheres Ergebnis kann aber, weiß Gott ;-) nie garantiert werden.
Schließlich ist der Ball das Corpus Delicti. In der Kunst ist die Kugel ja ein Attribut der Glücksgöttin Fortuna, im weitesten Sinne ein Symbol des Schicksals und der Unbeständigkeit. Dennoch glaubt so mancher, er könne die Chose klar einschätzen oder gar berechnen. Stimmt nicht: Fußball ist eine wirklich eindrucksvolle Versuchsanordnung des Zufalls – meine Meinung.
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* Wie im Bild mit der Queen weiter oben zu sehen, hat Haller eine recht gefährliche Rückennummer und als Schütze des 1:0 die Kugel vielleicht einfach zu früh versenkt ;-)