„Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest“


Das zierliche Kunstwerk oben im Bild habe ich letztes Jahr beim Heckenschneiden gefunden und wie ein Exponat aufgehoben. Da war die Brutzeit längst passé, wir achten da sehr drauf, dass hier kein Piepmatz in der Schonzeit zu Schaden kommt. Die neue Generation ist also längst flügge und die verlassene Kinderstube ist somit für den Kunstbetrieb freigegeben. Und während ich mich über dieses geschnäbelte Symbolobjekt eines sich reproduzierenden Familienlebens freue, verheddern sich meine Gedanken beim eintönigen Gartengeschnippel ins Wörtergespinst des „Wintermärchens“, hangeln sich rund um diesen einen Vers mit der fröhlich-trotzigen Metapher:



„Und viele Bücher trag ich im Kopf! / Ich darf es euch versichern,
Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest / Von konfiszierlichen Büchern.“



Die vielen Bücher in meinem Kopf haben mir durchs Leben geholfen, sei es durch praktisches Wissen in Job und Alltag oder durch ideellen Beistand in trüben Zeiten. Da gibt es Sätze wie den obigen, die mich spontan beglücken, weil sie so charmant vielsagend sind. Aufmunternde Mantras eben. Wenn sie mich zudem mit ironischem Witz gegen die deutsche Verzagtheit und die derzeit grassierende Moralin-Seuche immunisieren, umso besser. So bin ich den meisten Zeitgenossen am Tage zugetan, und der Rest kann mir dann friedlich im Mondschein begegnen.

Trotzdem reagiere ich mitunter panisch, wenn ich sehe, wie respektlos die Menschheit mit ihrem kostbaren Wissensschatz umgeht. Es gibt viele Anzeichen für einen Kulturkampf wie in barbarischen Zeiten, in denen man sich gegenseitig die Tempel stürmt und die Bibliotheken abfackelt.


Vom Reclambüchlein mit Hans Traxlers Illustrationen habe ich einen kleinen Vorrat zum Verschenken. Gleich nach dem Studium wäre das mein nächstes Projekt gewesen: Heines Wintermärchen illustrieren. Aber ich muss zugeben, dass Traxlers leichter Strich tatsächlich richtig gut passt. Chapeau.


Woher nahm dieser kränkliche Dichter vor hundert Jahren eigentlich seine positive Perspektive? Im 19. Jahrhundert war das schlicht der Trend, die progressive Erwartungshaltung und der Glaube, dass mit jedem Jahr, Wissenschaft und Technik neue Geschenke verteilen. Diese Mentalität ist nun ein für alle Mal aus der Welt. Was unsere zeitgenössischen Tech-Milliardäre an Visionen entwickeln, ist für mich die Vorhölle. Nun denn, rein ins Fegefeuer! Begegnen wir der Zukunft mit Ironie und Fatalismus! Froh zu sein, bedarf es wenig, und jeder, der eine glückliche Kindheit hatte, bleibt ein König. So viel ist sicher, die eigene Vergangenheit versaut mir keiner mehr.

Aber zurück in die Zukunft, zum Kulturkampf im eigenen Kopf, mit der bangen Frage, wie lange im eigenen Oberstübchen noch fröhlich gezwitschert wird. Sind die Gedanken darin noch frei, wenn die KI sie rund um die Uhr belauscht, anzapft und der eigenen Fantasie das Wasser abgräbt? Wo findet dann nachweisbar noch spürbare Realität statt? Es geht schon lange nicht mehr darum, was wahr, was wirklich oder lediglich virtuell ist. Wer sich berufsbedingt mit der menschlichen Wahrnehmung befasst, konnte per se keine allzu großen Erwartungen in die menschliche Vernunft setzen. Logik und Gefühlswelt, Tatsächliches und Virtuelles gehen durch denselben Kanal, und der Kopf ist ein willfähriges Empfangsgerät für alles. Wie mein überfordertes Gehirn die Informationsflut schließlich sortiert und bewertet, ist reine Glückssache. Augen zu – einatmen, ausatmen.




Augen auf! Ein letzter Blick auf dieses leere Vogelnest in seiner naturschönen Pracht! Mag jeder für sich ausprobieren, welche Assoziationen das schützend geformte, behagliche Körbchen und nunmehr leere Mulde in ihm auslöst. Ein feines, kleines Naturbehältnis für den Einschluss schöner, ängstlicher oder wehmütiger Gedanken? Auf jeden Fall ein Artefakt. Wenn ich dafür ein passendes Podest finde, stelle ich es in die Ecke neben Maries rätselhafte Papierkomposition.

Ich erinnere gerne noch mal daran, dass Kunst allein schon deshalb die Verschlüsselung braucht, damit nicht jeder gleich seinen vorlauten Kommentar dazu abgibt.