Narr und Winterkönig*in
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„Wenn es weiter so schneite, dachte sie, würde morgen alles mit Weiß bedeckt sein, und die Rückfahrt nach Den Haag könnte schwierig werden. War es für Schnee nicht viel zu früh im Jahr? Wahrscheinlich würde dafür bald schon irgendein bedauernswerter Mensch dort unten am Pranger stehen. Und dabei liegt es an mir, dachte sie. Ich bin doch die Winterkönigin!
Sie legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund, so weit sie konnte. Das hatte sie lange nicht getan. Der Schnee war noch so süßlich und kalt wie einst, als sie ein Mädchen gewesen war. Und dann, um ihn besser zu schmecken, und nur weil sie wusste, dass in der Dunkelheit keiner sie sah, streckte sie die Zunge heraus.“ – Daniel Kehlmann, Tyll, 2017
Zum Jahreswechsel noch ein kleines Schneetreiben! – Weil die so vielfach porträtierte böhmische Winterkönigin exakt die illustre Figur ist, die noch perfekt in meine Wer-bin-ich-Serie passt und da ich zuvor Banksy als neuzeitlichen Eulenspiegel bereits ausführlich behandelt habe, nun also zur anderen Sphäre der Gesellschaft und zu einem ganz besonderen Exemplar der Selbstdarstellung. Diese ungewöhnliche Frau hat Daniel Kehlmann in seinem vorletzten Roman „Tyll“ zur literarischen Ikone gemacht. Davon ausgehend ist das kunsthistorische „Profiling“ ein Kinderspiel.
Der Roman ist sechs Jahre alt, die letzte Seite zu zitieren ist wohl kein Spoiler mehr. Das Buch bietet ohnehin jede Menge fantastischen Erzählstoff, ist voll von wunderlichen historischen Figuren wie dem Universalgelehrten Athanasius Kircher und seinen exzentrischen Drachenforschungen. Magischer Realismus vor der Kulisse des Dreißigjährigen Krieges, ähnlich dem abenteuerlichen Simplicissimus. Die Figur der Winterkönigin bekommt von mir den Oscar für die beste Nebenrolle. Obige Sequenz habe ich seit Jahren im Kopf, weil sie wieder diese „wirkmächtigen Bilder“ bringt – als Schlussszene einer mutmaßlichen Verfilmung. Zumindest ein naiv-hoffnungsfrohes Silvestermotiv.
Das klassische Theaterthema „Narr und König*in“ ist hier zwar nur eine von vielen Erzählideen, am Ende kommt es aber zum Schlussdialog beider Figuren. Der König selbst ist der Pest zum Opfer gefallen, doch in diesem Stück ist seine Frau die Heldin, trotz oder gerade wegen ihrer gebrochenen Biografie. Der Narr geht ab, unbemerkt. Allein die Königin ist übrig zum Finale auf der Welttheater-Bühne. Der König vorzeitig schachmatt, die Dame bleibt im Spiel:
Elisabeth Stuart, Tochter des englischen Königs, in die deutsche Pfalz verheiratet, mit ihrem Friedrich nach Prag umgesiedelt und zum böhmischen Königspaar gekrönt, nach Ausbruch des Krieges mit der Reichsacht belegt und verjagt, nach fast 30 Jahren aus dem holländischen Exil angereist – nun steht sie also hier im provinziellen Osnabrück auf dem Balkon und hält inne. Im Rahmen der westfälischen Friedensverhandlungen sieht sie eine letzte Chance, die verlorene Kurwürde wiederzubekommen und ihren Stand zu restituieren. Drei Tage hat sie mit aller Zähigkeit, dem Mut der Verzweiflung, aber unter Wahrung ihrer restlichen Noblesse, mit arroganten Gesandten verhandelt, hat geliefert, was überhaupt möglich ist. Leise rieselt der Schnee – jetzt kommt also der stille Moment, in dem sich alle Anspannung löst und kindliche Zuversicht die Reflexe bestimmt.
Kleine, winterkönigliche Porträtgalerie im Schnee – untermalt von der „Badinerie“ des Johann Sebastian: eine lebensfrohe Musik, die erst zwei Generationen später entsteht. Aber ich nehme an, das hätte die anspruchsvolle Liz versöhnt, wo sie doch unter unserer groben Sprache und der allgemeinen Unkultiviertheit gelitten hat.
Footage und Soundfile: AdobeStock, Porträts: Wikimedia Commons.
Elizabeth Stuart, Queen of Bohemia¹, 1596-1662
Neben der sinnigen Doppelbedeutung¹ ihres ehedem offiziellen Titels, ist ihr Darstellungsdrang für Kommunikationsprofis ein lohnendes Exempel. Man beachte mal wieder die vier Kanäle nach Schulz von Thun: Information, Beziehungsebene, Selbstdarstellung und Appell. Die beiden letztgenannten sind in den zahlreichen Portraits der Exilmonarchin besonders auffällig. Ein Vergleich mit heutigen Profilfotos in sozialen Medien drängt sich regelrecht auf. Grob vereinfacht: der übliche Jahrmarkt der Eitelkeiten. Wesentlicher Unterschied: hohe Herrschaften von damals haben höhere Ansprüche und barocke Kleider machen besonders mächtige Leute. Der Schein bestimmt die Wirklichkeit.
In unserer abendländischen Kultur hat das Bild, das Abbild oder Konterfei, eine enorme Bedeutung, nicht allein für die Gegenwart, sondern auch für die Nachwelt. Die Porträtgalerien der historischen Prominenz beweisen uns heute, wie gut ihr Machterhalt darüber funktioniert hat. Wer sich malen lässt, lässt sich verewigen und reklamiert auch posthum seine Bedeutung. Der Kampf um Stand und Rang ihrer Familie hat sich jedenfalls gelohnt für die Nachkommen der ehrgeizigen Elisabeth. Sie wird zur sogenannten Stammmutter der zukünftigen britischen Könige.
Bilder wirken nicht nur an der Wand, sondern auch immateriell, allein als Vorstellung in unseren Köpfen. In einem aktuellen Rhetorik-Ratgeber, in dem es auch um selbstbewusstes Auftreten geht, lese ich den Tipp, sich beim Betreten eines Raumes vorzustellen, man trage einen ausladenden Reifrock, der sich auf dem Parkett sanft dahinschleppt. Mit dieser majestätischen Konditionierung fällt dann angeblich alle Schüchternheit ab und die gewünschte Aura kommt wie von selbst. Wohl ein Trick aus der Schauspielschule. Passt nicht bei allen Geschlechtern, hier gibt es noch die Variante mit großen Engelsflügeln, nun ja. Fest steht, die Einbildungskraft ist ein mächtiges Werkzeug.
Ein nüchterner Charakter ist verständlicherweise genervt von allen Extravaganzen, aber im Marketing zählt die Regel, dass die Aufrechterhaltung der Fassade, der schönen Oberfläche, dem taktischen Selbstschutz dient – der allerdings Disziplin voraussetzt und Contenance. So wie die Winterkönigin todmüde in die kühle Balkonluft flüchtet, weil es ihr im Ballsaal unter dem Pelz viel zu heiß wird. Denn darunter verbirgt sie ihr fadenscheiniges Kleid: eine wunderbar poetische Metapher.
Am Ende stehen wir jetzt neben der trotzigen Liz auf dem Balkon: Die kindische Freude an der eigenen Performance – auch wenn im großen Zusammenhang, damals wie heute, vieles eher aussichtslos erscheint – hat ein beachtliches, energetisches Potenzial. Der kristallklare, strategische Nutzen liegt in der Mobilisierung des naiven Grundvertrauens und dem jugendlich-positiven Gefühl, das genüsslich ausklingt, wenn die Schneeflocke auf der Zunge zergeht. Und nun Ade zur guten Nacht.
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¹ Das französische Wort Bohême für „Böhmen“ geht auf die angeblich sorglose Mentalität der dort lebenden, zum Teil vagabundierenden Menschen zurück. Böhmen galt als „das fantastische Vaterland der Künstler und Epikureer“.
„WERTE MENSCHEN“, …
wem mein Jahresabschlussreferat zu kapriziös oder zu historisch ist, der folge entspannt unserem familiären Tollwood-Spaziergang im Hier und Jetzt – mit Club-Lichtern, einem pinken Pegasus-Einhorn, etwas Mut und bunten Himmelskörpern!
Footage: HHE · Soundfile: AdobeStock