Once in a Lifetime – A Passion Play*

Vor dem Passionstheater


Bereits in meiner Kindheit wird mir auf Urlaubsreisen diese Passionssache zugeraunt. Ein legendäres Schauspiel, das nur alle zehn Jahre stattfindet – allein die Zeitspanne kann einen Kindskopf gehörig einschüchtern. Und dann diese historische Mär von Pest, Tod und Teufel und dem Dreißigjährigen Krieg, das sollte mich auch später nachhaltig beschäftigen. Die religiöse Gesinnung geht mir aber früh verloren. Nur gelegentlich meldet sich ein spiritueller Rest, den ich mir wiederum pfleglich bewahre, denn als Designer weiß ich, dass man flexibel bleiben muss – bis zum Schluss.

Meine katholischen Eltern selig kennen als Urlaubsziel nur den deutschsprachigen Süden und dennoch schaffen sie es nie, die Passionsspiele zu besuchen. Die Sache wäre also völlig vergessen, aber wer kurz vor Garmisch häufiger mal im Stau hängen bleibt, fragt sich angesichts der imposanten Billboards mit den Kruzifixplakaten, inwieweit man selbst die nächsten zehn Jahre unter Kontrolle hat, ob es langsam Zeit wird? Schließlich sitzt man wahrhaftig in diesem riesigen Passionstheater, trotz Corona dicht an dicht und geht nach sieben Stunden Vorführung beseelt nach Hause.

Das monumentale Projekt, dass seit Jahrhunderten dieses Bergdorf prägt, hat eine gewaltige Aura und darauf sollte man seine Sinne ausrichten. Unwesentlich ist, ob man sich als Zuschauer dabei einer Religion zugehörig fühlt oder nicht. Das Ganze ist wirklich mehr, als die Summe seiner Teile und wirkt lange in mir nach. Es beindruckt, wie leidenschaftlich hier ein künstlerisches Gesamtkonzept von einer Gemeinschaft getragen wird, wie man an Ästhetik und Perfektion arbeitet und so der gemeinsamen Identität zu einem beeindruckenden Niveau verhilft.


Passionsspiele Oberammergau 2022 – Die unglaublichste Geschichte der Welt (Upload: megaherz)
Meine Lieblingsszene am Schluss, wenn Jesus und Petrus nach getaner Arbeit mit der Bierpulle anstoßen.

Der Zauber der eigenen Welt

Ich kenne Menschen, die, sofern man ihren privaten Wochenkalendern glauben mag, im Vergleich zu mir das Siebenfache unternehmen und erleben. Würde ich mich auf einen solchen Rhythmus einlassen, müsste ich den gestrigen Tag mit dem Heute überschreiben. Nach einem wirklich schönen oder ergreifenden Erlebnis kann und will ich mich tagelang danach in Gedanken damit beschäftigen. Über die Passionsspiele denke ich sehr lange nach, höre die Musik, lese das Textbuch, suche nach Podcasts. Die Erfahrung steht vor der Ausdeutung, heißt es in der Psychologie. Wenn ich also für das Danach keine Zeit freihalte, was soll ich mit einem Erlebnis noch groß anfangen, wie schmalspurig wäre dann die Ausdeutung? Hier kommt schon wieder der Designer durch – less is more.

Nach Max Weber ist unser modernes Leben ja angeblich entzaubert. Seit über hundert Jahren wird sowas behauptet. Zum Glück habe ich in meinem Leben von dieser industriellen Trostlosigkeit noch nicht viel mitbekommen. Immer, wenn mir nach einer Erfahrung ganz viel durcheinander im Kopf rumgeistert, wirr wie im Traum, dann waren die Eindrücke wohl ziemlich intensiv. Und jetzt habe ich naiver Zauberlehrling die Idee zu meiner Weihnachtskarte, in der all diese Reflexe ihr freies Spiel haben sollen. Was wohl das Unterbewusstsein an Ikonografie auspackt?

Man checkt mal wieder sein Verhältnis zur Religion und kommt wie stets zum selben, nüchternen Ergebnis: Die Dinge passieren, ob durch uns, mit uns oder einfach so. Und sehr wahrscheinlich ist da leider wirklich nichts, was nach dem Blackout auf einen wartet. Gerade deshalb ist das Jenseits so uninteressant und das Leben so wertvoll. Amen.



*) A Passion Play eines dieser epischen Alben von Jethro Tull. Hab' ich in den Siebzigern rauf und runter gehört und hat außer demselben Titel keinen Bezug ;-) Charmant ist das Déjá vu im alpenländischen Umfeld trotzdem.




PS: im November 2022 – Der tote Christus in Jean Pauls fantastischem Traum

Bei all der romantischen Chormusik im Passionstheater und der schlichten Frage, welche Rolle ein Menschensohn wie Jesus in der heutigen Zeit einnehmen könnte, fällt mir Jean Pauls legendärer Text ein, den ich mit angemessener Sorgfalt hier einstelle. Keine leichte Kost, sondern ein Paradebeispiel schwarzer Romantik. Wenn man seiner Vorbemerkung zum eigenen Aufsatz folgt, so stellt dieser eine Art Therapieangebot an sich selbst dar. Bei mir klappt‘s auf Anhieb erstmal nicht. Da bleibt eher nur ein grusliger Nachhall. Wie gesagt, das Jenseits ist nichts für mein leichtsinniges Gemüt.

Wer sich traut, rein in die Sonnenfinsternis! Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, …