Ikarus

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In der siebten Klasse kommt eine neue Kunstlehrerin an unsere Schule und weil die ganz cool ist, melden sich viele zur freiwilligen Kunst-AG am Nachmittag. Einmal gibt es als Vorgabe ein klassisches Thema: die Sage von Dädalus und Ikarus. Keine Ahnung, was wir da pinseln sollen, überall großes Rätselraten. Auf Nachfrage bekommen wir dann eine kleine Einführung, was sich anfangs ganz gemütlich anhört. Aber Frau Tuschinsky, die wirklich so heißt, kann gelegentlich mit ihren großen Augen recht streng über ihre Hippie-Brille hinwegblicken. Sie geht durch die Reihen und echauffiert sich etwas zu doll über den leichtfertigen Sohn, den halbstarken Rotzlöffel, der den genialen Fluchtplan so elend scheitern lässt und so den armen Vater in die Depression treibt. Das kommt fast vorwurfsvoll rüber, so von oben herab, als hätten wir was verbockt. Dass dieser Vater in seiner Vorgeschichte ein Mörder aus niedrigen Beweggründen ist, erzählt sie nicht.

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Die Navigation der christlichen Seefahrt

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„Große Zeit ist's immer nur, wenn's beinahe schiefgeht, wenn man jeden Augenblick fürchten muß: jetzt ist alles vorbei.“ Theodor Fontane, 1898 – Der Stechlin


Die Seefahrt mit allen ihren Requisiten ist in der Malerei schon immer eine prachtvolle Kulisse für das Abenteuer des Lebens, die Entdeckung und Eroberung der weiten Welt. Das Ganze im Kontext frommer Beständigkeit darzustellen, ist die Motivation des Pieter Brueghel dem Älteren bei einem seiner weniger bekannten Bilder, von dem man nicht mehr sicher ist, ob es sich um ein Original handelt oder eine Werkstattkopie. Was der Pinselführung nach wahrscheinlicher ist. Auch der Titel ist nur unverbindlich überliefert: Landschaft mit dem Sturz des Ikarus – mehr die wage Beschreibung dessen, was man ohnehin sieht. Sofern man genau hinsieht.

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Citizenfour – Permanent Record


Die absolut wahnwitzigste Nachwirkung auf die Katastrophe des 11. September 2001 ist die digitale Aufrüstung der US-Geheimdienste. Schon Tage später beginnt die Arbeit an einer Anti-Terror-Strategie, die zur Totalüberwachung der gesamten Menschheit führen könnte. Ein Konzept, das alle Hightech Register zieht. Naheliegend, dass sich die Amerikaner auf ihre IT-Infrastruktur verlegen, denn auch wenn längst andere Mächte die Zukunft der Welt mitbestimmen, das Internet gehört von Anfang an und weiterhin den Amerikanern. Man achte nur einmal in Google-Analytics auf die seltsam umfassenden Zugriffe aus der Kleinstadt Ashburn, Virginia.

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„Schönheit wird die Welt retten“

Foto: AdobeStock


Das berühmte Zitat über die Schönheit gibt es in mehreren Variationen, ursprünglich nachzulesen im Roman „Der Idiot“. Dort heißt es wie hier oben in der Headline, kommt dann noch modifiziert in anderen Dostojewski-Texten vor und ist, da aus dem Russischen übersetzt, in seiner romantischen Gestalt etwas unzuverlässig – die Botschaft allerdings bleibt stets dieselbe. Mir begegnet der Satz zuerst in einem TV-Feature über eine russische Geigerin. Das alles ist mindestens zehn Jahre her, den Namen der jungen Künstlerin habe ich vergessen, an die Typografie des Beitrags aber kann ich mich fotografisch genau erinnern und deshalb bleibe ich bei meiner Fassung „Nur die Schönheit kann die Welt retten“, auch weil ich finde, dass es schöner klingt. Und darum geht’s ja schließlich.

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Totentanz in modernen Zeiten


Apropos Sensenmann. Es gibt in Thomas Manns Zauberberg eine Stelle, wo der Romanheld seinen Arzt bittet, kurz die eigene Hand hinter dem Röntgenschirm betrachten zu dürfen. Das war noch vor dem ersten Weltkrieg und ist darum für den feinnervigen Patienten unfassbar spektakulär:

„Und Hans Castorp sah, was zu sehen er hatte erwarten müssen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist, und wovon auch er niemals gedacht hatte, dass ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab.“ – Den Satz muss man sich selbst vorlesen und würdig, mit herabsinkender Stimme ausklingen lassen. Wer das Morbide mag, genießt diesen wohligem Grusel. Frei von Angst, allein aus schwermütiger Neugier heraus einmal kurz seine potentiellen Überreste anstarren und ins Grübeln verfallen. Mir gefällt sowas.

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„Jede Zeichnung ein Blitzkrieg“

Foto: IMAGO / Hans Lucas


Heute ist Tomi Ungerer gestorben. Jüngster Spross eines Straßburger Uhrmachers und Fabrikanten für Turmuhren, welcher darüber hinaus für die astronomische Uhr des Münsters zuständig war. Wenn ein Leben mit einer solchen Parabel beginnt, muss was draus werden. Tomi Ungerer wurde einer der berühmtesten Zeichner der westlichen Welt. Ein Schriftsteller, Illustrator und Werbegrafiker, der mir mit seinem Gesamtwerk immer hundertprozentig sympathisch war, ohne dass mir alles gefallen hätte. Ein Charakter, der mich in seiner politischen und (a)moralischen Ausrichtung überzeugt, was ich aber auf die Schnelle nicht so leicht erklären kann. Ein wirklich grandioser Spiegel-Artikel nimmt mir die Arbeit ab. Hier ist alles geschmeidig aneinander gereiht, was mir selbst spontan nicht einfällt – und bei der Headline hätte ich zumindest gezögert …

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Schön ist die Jugend


Der Maler und Grafiker Heinrich Vogeler (1872-1942) ist eine tragische Person und irgendwie auch eine Symbolfigur des Jugendstils, von den rauen Winden des neuen Jahrhunderts verweht. Die Zeichnungen des Illustrators begegnen mir früh in den liebevoll aufgemachten Publikationen des Inselverlages. Im Gegensatz zu seiner etwas betulichen Malerei ist seine Grafik ganz im Sinne der britischen Arts and Crafts, locker und elegant, mit klarer, auch verschwenderischer Linienführung, dem jung verstorbenen Engländer Beardsley fast ebenbürtig. Vogeler führt als reicher, junger Mann und Familienvater im Worpsweder Künstlerdorf ein Leben wie im Bilderbuch. Gestaltet die aufwändigsten Bücher, Möbel, Dinge des kunstgewerblichen Alltags, Tapeten, Schnickschnack, alles was das Herz entzückt. Ein Leben für die schöne Form. Bis ihn Zweifel an seinem Talent und seiner elitären gesellschaftliche Stellung in die Lebenskrise driften lassen. Letztlich werden ihn der Erste Weltkrieg und die Trostlosigkeit der sozialen Frage zermürben. Der Sozialist stirbt in Armut und Elend in einer Kolchose in Kasachstan. Sein Grab ist unbekannt.

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Und ruhig fließt der Rhein

Blick vom Drachenfels auf Nonnenwerth


Die Dinge bestimmen unser Verhältnis zur Welt. Der Mensch definiert sich radikal neu, seit er sein Leben nicht mehr nach dem natürlichen Licht, sondern nach einem Ding wie der Uhr ausrichtet. Zudem markiert der Entwicklungsstand von Technik und Medien eine emotionale Trennlinie zwischen den Generationen. Man mag sich noch so digital-logisch bemühen, ist der Antrieb dem Geburtsjahr zufolge analog-sozial-romantisch, wie in meinem Fall, dann bleibt er auch so. Aus meiner glücklichen Kindheit wirken darum zwei Dinge nostalgisch nach. Das ist zum einen ein warmtönendes Radio und zum anderen eine Küchenuhr mit ihrer eigenen Darstellung vom Lauf der Zeit.

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Bauhaus 1919 – Gedanken zum Jubiläum

Sondermarke aus dem Jahr 1983


Engagierte Kunstschulen, vor allem solche, die das gesamte Spektrum des Designs, das Kunstgewerbe und die Architektur mit einbeziehen, haben für mich etwas sehr Friedvolles und Glückverheißendes. Eine goldene Zukunft erwartet die Gesellschaft, die sich ein solches Experimentierfeld leistet und vermeintlich nichtsnutzigen Menschen das Vertrauen schenkt, sich um die Vernetzung von Volkswirtschaft und Kultur zu kümmern. Eine Zukunft der gegenseitigen Wertschätzung und Besinnung auf die Schönheit des Lebens, meist als Rück-Besinnung auf die zuvor selbst und leichtfertig zerstörte eigene Hochkultur. Nicht selten, dass solche „Musentempel“ nach überlebten Kriegstraumata gegründet werden, wie das Bauhaus in Weimar nach dem Ersten Weltkrieg oder die Ulmer Hochschule für Gestaltung nach dem Zweiten Weltkrieg.

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Die Welt von oben gesehen

Bildquelle Wikipedia


„Wenn der liebe Gott sich im Himmel langweilt, dann öffnet er das Fenster und betrachtet die Boulevards von Paris.“ Heinrich Heine, 1832 – für die Augsburger Allgemeine


Der Blick aus dem Fenster auf die Geschäftigkeit der Anderen gehört den Neugierigen, den Tagträumern oder Tagedieben. Es ist die Perspektive des Künstlers, der schon wieder mal vier Stunden später aufgestanden ist als die übrigen Zeitgenossen. So stellt auch Louis Daguerre eines schönen Tages seinen Holzkasten auf die Fensterbank, macht den Objektivdeckel ab und lässt den Dingen seinen Lauf. Dass im Ergebnis, außer den Immobilien, nichts auf der Glasplatte übrig bleibt, ist die eigentliche Ironie der Zeit oder besser der Zeitkonstante. Weniger geheimnisvoll formuliert, es ist die Belichtungszeit, die das Wesentliche verschluckt und das Nebensächliche konserviert. Nur der stoisch vor sich hin werkelnde Schuhputzer und sein geduldiger Kunde werden im Kontinuum eingefangen, alle Anderen sind dem Fotokünstler davongehuscht.

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