Schein, Sein und Design

„Alles vergeht“, … sagt das Spieglein an der Wand.


Wenn die Wahrnehmung kippt, kippt auch die Stimmung. Dann dauert es eine Weile, bis man zu seiner wohltemperierten Laune zurückfindet. Auch – oder vielleicht sogar insbesondere – der künstlerische Hallodri ist sich oft genug des Ernstes der Lage bewusst. Neulich hätte ich mein Leben beinahe leichtfertig und abrupt beendet. Ist aber nix passiert. Anstatt als Radfahrer unter die Räder eines Lastwagens zu geraten, landete ich ersatzweise in einer staubigen Hecke. Solange mich meine geprellte Hand noch wehleidig daran erinnert, bin ich mir meines Glücks täglich bewusst.

Leben ist immer lebensgefährlich, hatte ich im letzten Beitrag schon erwähnt. Aber auch wenn man auf der Hut ist, sind manche Dinge nicht gleich erkennbar. Oder besser gesagt: gleichzeitig. Die Problematik, wechselhafte Erscheinungen gleichzeitig zu verarbeiten zeigt sich auf eindrucksvolle Weise bei Vexierbildern. In diesen merkwürdigen, auch Kippbilder genannten Scheinwirkungen, sieht man entweder das eine oder das andere, aber nie beides simultan. Dieses Kipplige ist zwar künstlerisch interessant, im Kommunikationsdesign jedoch meist unbrauchbar, da irritierende Botschaften nicht „verkaufsfördernd“ sind. Sowohl in der vorgegaukelten Werbewelt als auch im echten Leben sorgt nur eine klare Sicht auf die Dinge für ein wirklich gutes Gefühl.

Und nicht nur die manipulierten Bilder sorgen für Verwirrung. Auch eine unklare oder mehrdeutige Sprache kann dazu führen, dass man die Orientierung verliert. Dann ist man froh, wenn sich die Begrifflichkeiten irgendwie entwirren lassen. In dieser Beziehung erinnere ich mich besonders gerne an meinen Englischlehrer, den allseits beliebten Dr. Seibel selig. Ein charismatischer Philologe, der alle interessanten Vokabeln aus ihrer Herkunft heraus erklären konnte – charmant, witzig und anekdotenreich, sodass es auch hängen blieb. Die drei Jahre in der Oberstufe des Bonner Friedrich-Ebert-Gymnasiums waren deshalb mit die lehrreichsten meines Lebens.

Und weil ich tagtäglich eine langweilige Anreise aus meinem Kaff in die damalige Hauptstadt hatte, klemmte stets irgendein Buch unter meinem Arm. Denn ich hatte ein Lesedefizit und wollte deshalb in Bus und Bahn zum Thema Weltliteratur freiwillig nachsitzen. Lesen beruhigt, schon allein, weil es die Perspektive aufs Leben immer wieder neu justiert. Versnobten Erwartungen einer belletristischen Bildung zum Trotz lauern auch einige Gefahren. Man könnte leicht in eine Fantasiewelt abgleiten oder glauben, dass sich das eigene Leben wie von Geisterhand in einen interessanten Plot auflöst. Hier sind Pragmatismus und ein gesundes Laissez-faire gefragt.

Von Dr. Seibel hatte ich gelernt, dass man sich das Leben nicht unnötig schwer machen sollte und dabei leichten Herzens auf akademische Arroganz verzichtet. Darum war es ihm letztlich auch völlig egal, ob wir Charles Dickens im englischen Original oder auf Deutsch lasen – Hauptsache, wir lasen viel. Die Aufgabe, außer der Reihe und auf Vertrauensbasis, war, mindestens drei Romane von Dickens, fünf Theaterstücke von Shakespeare und Thackerays Hauptwerk „Vanity Fair” – auf Deutsch „Jahrmarkt der Eitelkeit” – zu lesen. Irgendwann hatten wir alle unser Abitur und der Fachlehrer hatte bis dahin nie wieder nachgehakt, ob wir die dicken Schwarten tatsächlich gelesen hatten. Das war einerseits Privatvergnügen, andererseits Ehrensache. Unser Englischunterricht hatte nicht ganz den Zauber von „Dead Poets Society“, war ihm aber ziemlich ähnlich.


Titel und Frontispiz von Vanity Fair (ersch. 1848), einem Roman „ohne Helden“, wie es im Untertitel heißt. Mit tausend Seiten ist das unterm Strich eine recht öde Angelegenheit. Berühmt ist vor allem der Buchtitel, der einen bis heute gültigen Begriff geprägt hat. Trotzdem hätte uns der Fachlehrer besser Thackerays „Barry Lyndon“ lesen lassen, denn diese Geschichte hatte Stanley Kubrick im selben Jahr gerade grandios verfilmt.

Einmal kam Dr. Seibel schwer atmend mit zwei Reisekoffern ins Klassenzimmer. In einem Koffer befanden sich ausschließlich die Werke von Charles Dickens, im anderen seine französischen Lieblinge Balzac und Molière. Nur um uns zu zeigen, was große Sprachkünstler der Nachwelt so hinterlassen, allein die Menge sei doch absolut beeindruckend. Überall steckten Zettelchen drin, das waren wohl seine Lieblingsstellen. Dann griff er das eine oder andere Buch und las auszugsweise daraus vor. Anfänglich wunderten wir uns, dass er gelegentlich unmerklich stockte, bis uns klar wurde, dass er die Originaltexte freundlicherweise simultan ins Deutsche übersetzte.

Mitunter vergaß er sogar, in welcher Sprache der Unterricht offiziell lief. Dann erklärte er uns die englische Grammatik auf Französisch. In besonderen Fällen – wofür er sich gleich entschuldigte – griff er auf Latein zurück. Er war schließlich ein erklärter Neusprachler. Die Sache mit der „Vanitas” war jedoch kunsthistorisch von Bedeutung. Denn „Vanitas”, „Vanity” auf Englisch, bedeutet auf Deutsch „Eitelkeit” und hatte in unserer sprachlichen Vergangenheit noch keine selbstverliebte Bedeutung, sondern stand für „Vergänglichkeit”. Beispiel: „My independence seems to vanish in the haze“, jetzt spricht Dr. Seibel wieder Englisch und zitiert ausnahmsweise mal John Lennon.

Dann war da noch unser Kunsterzieher, Oberstudienrat Schneiders, ein Kommilitone des berühmten Joseph Beuys. Er war ziemlich der einzige Lehrer in der Oberstufe ohne Doktortitel und ermunterte mich, ein Leben als Grafiker ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Seinen Kunst-Leistungskurs nahmen wir jedenfalls sehr gelehrig auf, auch in theoretischer Hinsicht. Was Seibel für die Sprache war, das war Schneiders für das Bild. An die Grafik unten kann ich mich noch gut erinnern, sie erschien damals schon als Projektion auf der Leinwand (Quelle Galeriebild WikimediaCommons).

Zudem erinnere ich mich noch an die leicht genervte Antwort des Pädagogen auf die wiederholte Frage nach der „Allegorie“. Sein Lieblingsbeispiel war wohl die (verpasste) Gelegenheit:


Nachträgliche Osterbotschaft zu Pfingsten


Wenn man nicht wohlwollend an die Sache herangeht, könnte man den obigen Mini-Clip vielleicht fehldeuten. Darum sei freundlich darauf hingewiesen, dass hier keine schmähliche Ironie im Spiel ist, schon gar nicht, was Barbara Dürer betrifft. Sie war eine bemerkenswerte Frau, brachte 18 Kinder zur Welt, überlebte mehrfach die Pest, starb aber letztlich im Alter von 62 Jahren völlig ausgezehrt. Zwei Monate vor ihrem Tod fertigte ihr Sohn diese einzigartige Kohlezeichnung von ihr an. Sie gilt als eine der ersten authentischen Abbildungen eines todkranken Menschen. Also das exakte Gegenteil dessen, was die idealisierten Bildnisse der Renaissance-Venus Simonetta verkörpern. Deren Schönheit währte dagegen nur 23 Jahre.

Ein Zeitraffer vom Idealismus über den Realismus bis hin zur medizinischen Bildgebung, untermalt vom mittelalterlichen „Victimae paschali laudes“. Nur weil es so wunderschön klingt, hat sich dieser österliche Gesang hier eingeschlichen. Dabei fällt mir ein: Über die Intonation des Lateinischen streiten sich die Experten nach wie vor sehr gerne. Wäre es nicht am einfachsten, wenn man es wie im obigen Beispiel italienisch ausspricht? Ausgehend von k-Aussprache und gerolltem r liegt man wohl gar nicht so falsch.

Apropos: Eine warme Altstimme, wie im obigen Beispiel, hätte ich mir als Ministrant damals eher gefallen lassen als den amusischen Vortrag unseres alten Prälaten mit seinem geröchelten Latein. Automatisch entscheidet man sich doch immer wieder gerne für die Schönheit.

In diesem Sinne: Frohe Pfingsten!




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