Tom Rücker, Senior AD

TR, mein Lieblingschef von 1985-87


Vor 10 Jahren ist mein erster Agenturchef Tom Rücker gestorben, ohne dass ich es mitbekommen habe – traurig. Das genaue Datum ist mir unbekannt. Am 19. August 2014 war in der Augsburger Allgemeinen davon zu lesen, im kurzen Nachruf leider nur ein paar Belanglosigkeiten. Man bemühte sich, das künstlerische Werk zu sortieren, dabei war Tom Rücker die meiste Zeit seines Lebens ein genialer Kommunikationsdesigner, ein virtuoser Cartoonist und Inhaber mehrerer Werbeagenturen. In drei davon, jeweils mit Unterbrechungen, war ich mit von der Partie.

Das Ganze beginnt damit, dass in meiner Trierer Studenten-WG jemand statt der ausverkauften Frankfurter Allgemeinen die Süddeutsche anschleppt, just als ich denke, so langsam müsse ich mal anfangen mit der Jobsuche. Das geht dann schneller, als erwartet und so lande ich in München bei der Agentur Bornhäußer & Rücker in der Prinzregentenstraße, direkt am Friedensengel, nobel. Hier fliegt mir gleich alles um die Ohren, denn der Laden hat ein irrwitziges Tempo. Der absolute Ruhepol darin ist Tom Rücker. Selten einen derart ausgeglichenen Mann kennengelernt. Künstlerisch hochbegabte Menschen – und so einer ist er ohne Zweifel – sind ja mitunter etwas bockig. Tom Rücker hingegen ist lustig, nachsichtig und beständig. Vor allem war er wohl mit all seiner Fantasie im Leben außergewöhnlich anpassungsfähig. Seine Frau beschreibt ihn mal als rollendes Gebüsch in der Wüste, das spontan Wurzeln schlägt, wenn es Wasser findet.

Viele Jahre zuvor verschlägt es die ganze Familie nach Fuerteventura. So eine Live-Changing Idee, nachdem er sich im Stress der Frankfurter Agenturszene ein Magengeschwür geholt hat. So meint er, mit der Erfindung des Faxgerätes könne man diesen Schritt wagen – auswandern dahin wo es schön warm ist und dann über moderne Kanäle mit der Welt in Verbindung bleiben, kreativ sein. Über Faxgeräte und deren Medienqualität macht man heute Witze und Tom Rücker erzählt von seiner Fehleinschätzung mit seinem typischen Schmunzeln. Auf der trockenen Insel lassen sich also schlecht Wurzeln schlagen und Rücker kehrt heim nach Deutschland und muss praktisch wieder von vorn anfangen. Er denkt sich nichts dabei, aber das Misstrauen der kommerziellen Unternehmen ist heftig, wenn ein Aussteiger mit einem „gescheiterten“ Projekt wieder im Regelbetrieb auftaucht. Naiv sei er gewesen, naiv und ahnungslos und ich solle mir daran kein Beispiel nehmen.



Auf eine seiner Ausstellungen kaufte ich mir diese Zeichnung mit dem Leuchtturm von Fuerteventura. Signieren ist dann später in der Agentur. Ich nehme die Zeichnung in Empfang und blättere ihm meine Barschaft auf den Schreibtisch. Er zählt ordentlich nach und linst über seine Lesebrille „Ist noch was? Sie sehen mich jetzt so an, als bräuchten Sie eine Quittung."


So war er mir in vielen Dingen ein Vorbild, in manchen eine Warnung. Tom Rücker war aus meiner Sicht zu vertrauensselig, ich dagegen wittere heute noch überall Fallen, wenn‘s ums Geschäftliche geht. Außerdem kann ich nie lange an mich halten, wenn ich einen talentlosen Angeber vor der Nase habe. Tom Rücker konnte damit generös umgehen, der stand da drüber. Und war gelegentlich dennoch recht kaltschnäuzig. Einmal fand ich heraus, dass ich als Atelierleiter weniger verdiente als ein Mitarbeiter in meinem Team. Der habe sich eben besser verkauft, als ich, war Rückers Kommentar, außerdem hätte er den sowieso demnächst rausgeworfen. Der Konjunktiv kam daher, dass die dritte und letzte Agentur, in der ich dabei war, aus heiterem Himmel gerade pleitegegangen war. Da hatten sich einige Probleme sozusagen von selbst gelöst.

In der Ruhe liegt die Kraft, war seine Devise. Und ich erinnere mich, dass er sich gelegentlich für eine Stunde in sein Büro zurückzog um danach mit der Bemerkung „Ein Pfund Cartoons", mir einen Stoß Papier auf meinem Reißbrett hinterließ. Meine Arbeit war jetzt das weitere Layout von Anzeigen, für, was weiß ich, Nürnberger Büromaschinen-Hersteller, Hotelketten, Buchhändler, Auto-Waschstraßen oder Pullacher Autovermieter, was ein Junior Art Director halt so wegbaggert. Der Senior AD hatte dann seine Vorarbeit gemacht und verzupfte sich in die Mittagspause. Er hatte sich das verdient, denn sein Ausstoß an Illustrationen und Layoutskizzen war außerordentlich. Im Buch des japanischen Schwertkampkünstlers Musashi steht geschrieben: „Ein Meister erscheint nie schnell in seinen Bewegungen". So war das bei Tom Rücker. Weil jeder Strich saß, war das Gesamtwerk ganz plötzlich fertig, ohne großen Wirbel. Wie bei einem Zauberkünstler bekam man den Trick nicht mit.

Nachtschichten

Das gemeine an den Nachschichten in deutschen Werbeagenturen ist, dass sie nahtlos an normale Tag- und Spätschichten angehängt werden. Viele halten das für ein Klischee, was es leider nicht ist, sondern die Regel. Vielleicht nicht ganz rund um die Uhr, aber 20 Stunden am Stück kommen da schon mal in heißen Präsentationsphasen zusammen. Und weil Grafiker die Letzten sind, werden sie meist so zwischen 2 und vier Uhr morgens von den Hunden gebissen. Dann macht sich Tom Rücker ein Bier auf, schaltet das Radio ein und skizziert mich bei der Arbeit.



Tom Rücker, Egerer zeichnet aus! (Dokument einer Nachtschicht) … Fortsetzung unten


Die schönste Zeit in der Agentur B&R war nach dem Umzug in die Siebertstraße in die Villa einer ehemaligen Botschaft. Hier saß man häufig bis tief in die Nacht und erzählte sich beim Layoutfinish Anekdoten. Rücker und ich hatten da schon ein ungewöhnliches Smalttalk-Potenzial, weil es jede Menge Berührungspunkte gab. Allein schon sein Studium an der Essener Folkwangschule, im mir vertrauten Stadtteil Werden, war ein gemeinsames Projektionsfeld. Diese Akademie ist eine der renommierten Kunstschulen für Tanz, Musik, Schauspiel und Design in Deutschland und zu Rückers Studienzeit waren alle Fakultäten noch an einem Platz. Als Student habe er mal den ersten Platz in einem Plakatwettbewerb gewonnen und das Preisgeld noch am selben Abend mit seinen Freunden zusammen an Ort und Stelle versoffen. Danach habe sein Vater endgültig gewusst, dass sein Sohn kein gewissenhafter Schwabe, sondern ein wahrhafter Taugenichts sei.

Wahlverwandtschaften

Das Thema Wahlverwandtschaften und seine physikalisch-chemischen Grundlagen kennt man aus Goethes Roman, der mir leider etwas zu theoretisch und betulich ist. Bei meinem väterlichen Vorgesetzten hatte ich das seltene Glück, praktisch erleben zu dürfen, wie es ist, wenn „die Chemie stimmt“. Bei diesem Herrn, den ich immer nur mit Herr Rücker ansprach, obwohl er von vielen geduzt wurde, war das schon etwas Besonderes. Eine Kollegin, die unsere Agenturhierarchie sehr genau beobachtete, wunderte sich, dass wir uns oft mit ironischer Respektlosigkeit begegneten. Rücker, der mich als „rheinische Frohnatur“ bezeichnete und mir dementsprechend viel Narrenfreiheit gönnte, ließ mir vieles durchgehen, aber es gab Grenzen. Einmal sollte ich Knall auf Fall zu einer Nacht- und Nebelaktion zur Düsseldorfer Filiale und hatte nicht die geringste Lust dazu. „Ich bin doch nicht bescheuert“, maulte ich Herrn Rücker an. Er nahm das Flugticket von der Sekretärin, drückte es mir grinsend in die Hand und sagte nur: „Gute Reise, machen Sie uns keine Schande!“

Handschriften

Wir hatten beide eine nahezu identische Art zu scribblen, oberflächlich betrachtet. Natürlich war mein Chef zwanzig Jahre besser, aber solche Feinheiten sieht man nur aus der unterlegenen Perspektive. Das Publikum außerhalb checkt das nicht. Hat mich auch immer gewundert, ist aber so. Und weil das so ist, fährt Rücker – da bin ich gerade mal zwei Wochen im Amt – spontan mit seiner Frau in den Urlaub und ich stehe allein auf weiter Flur. Ich solle ihn würdig vertreten, sagt er, klopft mir auf die Schulter und ist für 10 Tage weg. Ich fühle mich wie der Zauberlehrling, wenn der Meister aus dem Haus ist, nur dass mich die Panik gleich am Anfang überfällt und ich dann von Tag zu Tag besser mit den wild gewordenen Besen zurechtkomme.

Man muss sich die Arbeitsweise der Achtziger vor Augen führen: alles reine Handarbeit! Den Begriff „Scribble“ muss ich ja den jungen Leuten wie eine original grafische Technik erklären. Wer um 9 Uhr zum Dienst kam und seine Magic Marker aufstöpselte, hatte um 11 Uhr schon leicht einen sitzen, weil die Lösungsmitteldämpfe gnadenlos ins Hirn drangen. Und jedes Mal, wenn man sich verzeichnete, konnte man wieder von vorne anfangen. Heute ist jeder Fehler mit cmd+z ruckzuck vom Bildschirm verschwunden, als wäre nix gewesen. Damals hat man noch genervt seine Ideen zusammengeknüllt und in den Papierkorb gepfeffert. Und in den zehn Tagen von Rückers erstem Urlaub hatte ich einen absurden Verbrauch an Layoutpapier.

Auch unsere Handschriften wiesen eine gewisse Ähnlichkeit auf, allerdings nicht so wie der Strich beim Zeichnen. Einmal fiel mir auf, dass der Schriftzug der Marke „BRUNNEN“ auf einem Spiralblock doch eine extreme Ähnlichkeit mit Rückers Großbuchstaben aufwies. Darauf angesprochen, musste er grinsen, das sei ja auch seine Handschrift. Die Firma hat nicht nur ihren Sitz in Heilbronn, Rückers Geburtsstadt, sondern war auch eine seiner ersten Kunden. Fast alle Schüler*innen Deutschlands haben also immer noch Rückers Handschrift in der Schulmappe.


Zufälle etc.

Mein Zusammentreffen mit Tom Rücker hatte, wenn man es genau nimmt, mit mehreren Zufällen zu tun. Nicht allein die zufällig gekaufte Süddeutsche Zeitung spielt eine Rolle, sondern auch das Inserat selbst. Zum einen war die Agentur eine der wenigen, die ich in München zufällig kannte, außerdem fiel da noch die mit Filzstift gezeichnete Headline ziemlich aus dem Rahmen. Schlicht ein Fehler des Verlags, der gemäß der Layoutskizze umständlich ein Klischee machte, anstatt einfach eine Franklin Gothic Bold zu setzen. So aber blieb mein Auge dran hängen und ich schloss daraus, dass meine Filzstift-Skills gefragt sein könnten. Und so war’s ja dann auch.

Das Leben wird von vielen Zufällen bestimmt. Aber der Zufall schöpft aus dem Material, das unsere Entscheidungen vorgeben. Bislang habe ich mich immer entschieden, in München zu bleiben. Wenn ich mir Tom Rückers Wohnorte anschaue, Thaining, Landsberg, zuletzt Waal¹, dann hätte es weitere Zufälle gegeben, sich noch einmal über den Weg zu laufen – hätte ich mich anders entschieden.

Tom Rückers Schaffensperiode fällt weitgehend in die Zeit vor dem Internet. Drum hat er hier keine Spuren hinterlassen. Seine Internetpräsenz zeigte nur wenige Arbeiten und ist seit 2018 abgeschaltet. Geblieben ist dieser kleine Artikel in der Augsburger Allgemeinen, der seit einigen Tagen ebenfalls nicht mehr verfügbar ist. Und auch ein ChatGPT verfährt eher höflich sparsam nach der Regel „über Tote nur Gutes“. Zwei, drei lobende Sätze, mehr nicht. Woher soll denn ein Chatbot auch wissen, was einen wertvollen Menschen ausmacht?

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¹ Auch so ein literarischer Zufall, dass mein heimatlicher Rhein an seinem Ende genau so heißt ;-)





siehe auch Blog-Arikel In der Ruhe liegt die Kraft
und ein Rücklick auf den Friedensengel Ein englischer Gruß