Souvenirs 65/66

Foto: IMAGO / Horstmüller
Gerade, wenn der Moment so gar nichts Tröstliches bietet, dann greift man gerne reflexhaft nach einem positiv aufgeladenen Relikt. Dazu oben im Bild eine beispielhafte Situation. Der Mann mit der Nummer 8 ist Helmut Haller. Er hat gerade gegen England ein sehr berühmtes WM-Finale verloren und erwidert nun respektvoll den Handshake der strahlenden Queen. Vorher hat er sich den Spielball geschnappt, den er als Souvenir nicht mehr hergeben wird. Schwacher Trost?
Auf den ersten Blick vielleicht. Doch wie die Story zeigt, wird dieser Ball im deutsch-englischen Verhältnis noch einmal eine Rolle spielen, nicht staatstragend, aber mit romantischen Qualitäten und das hat, bezogen auf unsere Lebenswege, dann doch eine emotional wichtige Funktion. Steve Jobs hat das einmal „connecting the dots“ genannt. Und mit etwas gutem Willen sollte man dann zu einem zufriedenen Lebensfazit kommen. Die sinnliche Retrospektive der eigenen Welt ist ja nicht allein das Privileg großer Romanautor*innen, auch unsereins möchte mal was Erbauliches aus dem frühen und unschuldigen Leben rekapitulieren. Und wenn man nicht dem englischen Hochadel entstammt, sondern dem deutschen Proletariat, dann sind halt nicht die Fuchsjagd auf weiter Flur und der High Society Talk das Thema, sondern Fußball auf roter Asche und der Palaver auf dem Schulhof. Meine glückliche Kindheit erscheint mir dabei gerade recht, wenn auch vergleichsweise billig.
Rosa Tütchen zu 10 Pfennig
In sehr seltenen Fällen stöbere ich online nach verlorenen Dingen. Kürzlich ließ sich mein erstes Fußballalbum per eBay zurückerobern und damit ein Stück kindliche Zufriedenheit wiederherstellen, zumindest für einen flüchtigen Augenblick. Die sechziger Jahre erlebt zu haben, hat für mich im Rückblick immer noch eine beruhigende Wirkung. Objektiv ist das wahrscheinlich völlig übertrieben, wenn nicht gar falsch, aber subjektiv bewahre ich mir damit ein Stück heile Welt, in entsättigten Farben oder Graustufen, unprätentiös, meist schlicht in schwarzer Helvetica oder Futura auf weißem Papier. In diesem speziellen Fall rosa verpackt.
Das Merchandising der noch jungen Bundesliga, diese verpönte Kommerzialisierung des deutschen Fußballs, startet verhältnismäßig spröde und unbeholfen. In einem rosa Tütchen sind fünf Bilder und manche Fotos wirken derart unprofessionell, als hätte der Zeugwart am Ende des Trainings noch mal schnell was „geknipst“ – so heißt das damals. Die Eltern meines Mitschülers Hubert haben einen Schreibwarenladen, den ich mindestens zweimal die Woche aufsuche, um mein Taschengeld in die neue Fußballbilder-Währung zu wechseln. Damit ist man auf dem Schulhof-Markt souverän, kann sich auch als Drittklässler auf Augenhöhe zeigen, weil man eine ernsthafte Handelsware im Angebot hat. Anfangs bin ich noch ungeübt und leider luchst mir ein Älterer gleich am Anfang einen seltenen Spieler ab, im Tausch für nur zwei andere. Heinz-Willi, vier Klassen über mir, schüttelt den Kopf: „Für de Konietzka hätt’s de zehn andere krije künne, du Jeck!“ Tatsächlich muss ich mir den dann beim Verlag zum bitteren Ende nachbestellen, der taucht in keiner Tüte mehr auf.
Typografie der 60er Jahre: Albumtitel in Helvetica, Torwartlegende „Radi“ vor weißem Backdrop
Friedhelm Konietzka (1), von Dortmund zu den Münchner Löwen gewechselt, ist berühmt, weil er das erste Tor der neu gegründeten Bundesliga geschossen hat. Seiner militärisch kurzen Frisur wegen nennt man ihn Timo, abgeleitet vom sowjetischen General Timoschenko. Solche Sachen weiß meine Mutter. Woher ist mir stets ein Rätsel. Neugierig wie sie ist, schaut sie mir beim Einkleben ins Album gerne zu. „Loss ens lure!“ – Sie kennt viel mehr Spieler als ich. „Der Egon Loy is ene jute Torwacht.“ Wer jetzt? Noch nie gehört. Mich interessiert nur Dortmund mit Tilkowski (2), Held, Emmerich. Und dann die beiden Münchner Clubs, eher noch die Löwen, weil der exzentrische Radenković (3) ein bunter Hund ist. Aber die Aufsteiger haben Beckenbauer (4) und Müller, das ist nicht zu toppen. Nach der WM in England bleibe ich dann also bei den Bayern hängen.
„Kraft in den Teller, Knorr auf den Tisch.“
Beckenbauer macht als einer der ersten Nationalspieler TV-Werbung. Hier sitzt ein spargeldünner Franz schwarzweiß am Tisch und löffelt ein wässeriges Tütensüppchen. In alter Brühwürfeltradition bringt auch die Firma Knorr zur WM ‘66 ihre Sammelbilder auf den Markt, postkartengroß mit Unterschrift. Meine Schwester meint, ich könne die Bilder im leichten Bogen „fächerförmig“ in die Tapete übers Bett nadeln. Das sieht gut aus.
Wer hatte das flotteste Autogramm? Weber dynamisch kursiv, Emmerich eher gehäkelt, Beckenbauer krakelig. Haller mit interessantem H, den kenne ich noch gar nicht, weil er in Italien spielt, was ich anfangs nicht so richtig kapiere. Allerdings schießt der dann richtig viele Tore, muss also gut sein. Außerdem sei der ja ein „Namensvetter“ von mir, meint der altkluge Robert aus meiner Klasse. Das Wort ist mir neu. – Rechts unten der moderne Spielball, der aber im traditionellen England nicht eingesetzt wird.
Das Wembley-Tor
In jenem legendären Jahr ’66 wird auf einmal abends mit mehreren TV-Gästen Fußball geguckt. Da kommt Manfreds Vater zu uns, um Deutschland gegen Schweiz zu sehen. Deutschland heißt West Germany, das, finde ich, klingt eigentlich viel besser. Leider muss ich zur Halbzeit ins Bett, da steht es aber schon Dreinull. Nachmittags darf ich alle Spiele sehen. Gegen Uruguay fliegt sogar einer vom Platz, verpasst Uwe Seeler beim Abgang im Vorbeigehen noch eine Ohrfeige¹. Der hat wohl drauf spekuliert, dass „uns Uwe“ zurückhaut und auch einen Verweis kassiert, aber Seeler grinst nur milde über den billigen Trick. Das finden wir toll, denn cool sagt man damals noch nicht.
Das Halbfinale England-Portugal sehe ich bei Heinz-Willi, die haben glücklicherweise schon das Zweite Programm. Gegenüber den gewohnten Bundesligapartien in der Sportschau springen bei der WM die Spieler der Gewinnermannschaft immer viel höher in die Luft, das ist mitreißend. Zum Glück kommt England ins Endspiel. Portugal hatte Eusebio, der wäre zu stark gewesen.
__________
¹ Ein kleines Autogrammheft, original from England, das mir meine ältere Schwester aus dem Schulaustausch im WM Jahr mitbringt, hat tatsächlich überlebt. Darin sammele ich alle möglichen Sportler und kurioserweise läuft mir eines Tages der Bösewicht aus dem Uruguayspiel über den Weg: Horacio Troche, ehemals Kapitän der himmelblauen Nationalmannschaft, spielt Jahre später in der Bundesliga bei Alemania Aachen und schließlich in der Regionalliga beim Bonner SC. Ich begegne ihm mit kindlichem Argwohn, der war aber ganz nett.
Noch während der WM kommt meine Schwester von ihrem England-Austausch zurück und bringt unsere Gastschülerin mit. Alison sieht aus wie eine echte Engländerin, also nicht besonders schön, hat aber diesen charmanten Akzent: Bäckhänbaur – die deutsche Nummer 4 mit dem markanten Bewegungsprofil hat sie gleich im Blick. Ich finde das alles sehr exotisch, dass man hier mit Besuch aus England vor dem Fernseher sitzt. Und jetzt steht man auch noch gegeneinander im Endspiel. Der Spaß ist dann schlagartig vorbei, als Geoff Hurst den Ball unter die Latte schießt und ein grimmiger Russe gestikulierend klarmacht, den Ball hinter der Linie gesehen zu haben. Alison zeigt, zumindest in meiner Erinnerung, keine Regung. Allerdings führt meine Schwester zu jener Zeit gewissenhaft Tagebuch. Später kann sie stets den letzten Satz aus ihrem Eintrag vom 30. Juli 1966 zitieren, der sich auf die wohl doch merklich grinsende Alison bezieht: „Ich hätte sie erwürgen können.“
Saisonende 1965/66
Irgendwann war dann mein Fußballalbum, das gefährlich in räumlicher Nähe zur Fernsehzeitung auf dem Teewagen lag, verschwunden. Das hatte meine Mutter nach ihrem Verständnis „aufgeräumt“ und die Müllabfuhr war schon durch. Timo Konietzka und Radi wurden zu Saisonende mit den Löwen Deutscher Meister, da waren meine Album-Helden bereits im Altpapier gelandet.
*) Und dann ist da noch dieser Ball hier oben, den Haller so en passant an der Queen vorbeischummelt – mit dem Instinkt des Verlierers, der doch noch irgendetwas Kultiges aus dem Augenblick mitnehmen möchte. Hier bin ich ja noch eine Auflösung schuldig: Matchball – wie der Zufall so spielt.