Vom Zauber der Erkenntnis

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„Es gibt nicht eine Welt, es gibt nicht eine Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit ist durchlässig wie eine dünne Eisdecke. Wir können durchrutschen in die Katastrophe oder zu den glücklichen Zwergen, die sozusagen andere Gesetze haben.“ – Alexander Kluge, Filmemacher


Wie man in eine Katastrophe durchrutschen kann, müssen wir hier nicht ergründen. Haben wir die letzten beiden Jahre allesamt, wenn auch individuell sehr verschieden, erleben können. Also gleich weiterschlittern zu den glücklichen Zwergen! Was nun keinesfalls ironisch abwertend gemeint ist, sondern mit allem romantischen Respekt vor Menschen mit einsamer Mission.

Einer dieser bemerkenswerten, stillen und etwas kauzigen Menschen ist Wilson Bentley, ein Farmer aus dem kleinen Örtchen Jericho in den Vereinigten Staaten von Amerika, der schon als junger Mann in seiner Scheune einer seltsamen Leidenschaft nachgeht. Der „Snowflake Man“ beschäftigt sich in seiner gesamten Freizeit mit dem Fotografieren von Schneekristallen, was Ende des 19. Jahrhunderts reichlich schräg und zudem technisch ein Ding der Unmöglichkeit ist. Als es dem 20-jährigen Wilson dann am 15. Januar 1885 zum ersten mal gelingt mit seiner Eigenkonstruktion aus Plattenkamera und Mikroskop ein einzelnes Schneekristall festzuhalten, ist er mit seinen Glücksgefühlen völlig allein auf der Welt. Denn seine sozialen Kontakte sind dürftig – bis auf etwas Klarinette spielen im dörflichen Musikverein – und Schnee an sich ist nicht sonderlich beliebt bei den übrigen Milchbauern.



Und jetzt: die wundervollen Schneekristallaufnahmen von Ukichirō Nakaya.


Viele Jahre später beschäftigte sich der japanische Naturwissenschaftler Ukichirō Nakaya ebenfalls sehr tiefgründig mit dem Fotografieren und Herstellen von Schneekristallen – Foto: aufgenommen in der Ausstellung „Nebel-Leben" seiner Tochter Fujiko Nakaya im Haus der Kunst.



Es dauert Jahre, in denen er seine Aufnahmetechnik immer weiter verfeinert, bis er ein erstes Portfolio zusammenstellt und seine Leute zu einem offiziellen Vortrag einlädt. Ein Dia-Abend zum Thema Schneekristalle, Eintritt frei, zu dem ganze sechs Zuschauer kommen, die teils kopfschüttelnd gleich wieder gehen oder aus ihrem Desinteresse keinen Hehl machen. Menschen, die aus dem Verhaltensmuster ausbrechen haben es damals nicht so leicht. Das vergisst man heutzutage, wo es billig ist, sich seltsam zu gebärden und viele von diesem neuzeitlichen Grundrecht Gebrauch machen. Bentley ertrotzt sich alles mit geradezu wissenschaftlicher Ausdauer und in aller Bescheidenheit. Schließlich veröffentlicht er im Jahr 1931 sein Lebenswerk „Snow Crystals“, ein Buch mit über 2400 Aufnahmen und stirbt noch am 23. Dezember, nach einem langen Spaziergang im Schnee.

Dieser, in seiner Aufgabe erfüllte, glückliche Mensch, mag im klassischen Sinn weder Künstler noch Wissenschaftler sein und dennoch hinterlässt er einen imposanten Fußabdruck. In Bentleys Fall ist der Antrieb reine, vielleicht naive Begeisterung und Freude an der präzisen Beobachtung der Dinge. Doch entscheidend ist die Wertschätzung der eigenen Erkenntnis. Dass eine manische Fokussierung als blöde Zwanghaftigkeit abqualifiziert wird, ist zu verkraften, weil jeder Mensch, der sein Potenzial entdeckt, im gewissen Umfang seiner Gesellschaft „entrückt“. Man könnte durchaus nachempfinden, was sich in Bentleys Gemüt abspielt, als er das erste Mal auf seiner Glasplatte das Ergebnis sieht: Etwas noch nie Gesehenes, vertraut und fremd zugleich, künstlich und geheimnisvoll symmetrisch. Eingefroren in ein Abbild, das nun wirklich existiert – und märchenhaft schön ist.


Vom sechseckigen Schnee – „Nix besonderes?"

Der Astronom Johannes Kepler dagegen ist ein wahrer Gigant der Naturwissenschaften und wohl auch der erste, der ebenfalls Schneekristalle professionell untersucht. Am Neujahrsmorgen im Jahr 1611 ist er auf dem Weg zu seinem Freund und Gönner Wacker von Wackenfels. In seiner Tasche ein Geschenk, seine neueste Publikation „De Nive Sexangula“. Man kann sich heute dieses lateinische Büchlein in aktueller Übersetzung kaufen und verblüfft sein über diese Grundlagenforschung physikalischer Strukturen und deren Bedeutung für heutige Industriestandards. Witzig ist jedenfalls der flapsige Einstieg in die Materie. Kepler beginnt seinen Text mit einer Anspielung auf die Bedeutung des „Nichts“ in den Theorien des Aristoteles. Dieses philosophische Nichts scheint seinem adeligen Freund wohl besonders zu gefallen und darum schenkt Kepler ihm als Neujahrsgabe ein Buch voller „Nix“. Das versteht man nur, schreibt Kepler, wenn man als Deutscher Latein kann. Mir reicht es aber auch zu wissen, dass die Handcreme Nivea ihrer schneeweißen Farbe wegen so heißt, und dass Nive im Nominativ Nix lautet, lässt sich googeln.

… und zufällig rutschen wir glücklich in diesen sehr schönen, wirklich besonderen Weihnachtsauftrag hinein, bei dem unser Held Johannes Kepler zum Hauptdarsteller wird:


Kleine Weihnachts-Stopmotion für die Dräxlmaier Group, Vilsbiburg,
in Kooperation mit Schick Kommunikation, München


Die Harmonie der Welt

Als Studierende im ersten Semester fordert unser Zeichenprofessor uns einmal auf, die nächsten Tage aufmerksam zu beobachten in welcher Flächen- und Farbverteilung sich das Herbstlaub auf den Wegen ansammelt – weil sich hier stets „gute Proportionen“ quasi von selbst ergäben. Das kapiert niemand so richtig, weil wir halt alle noch dumm und etwas vorlaut sind und davon ausgehen, dass gute Gestaltung ausschließlich dem noblen menschlichen Geist entspringt und nicht auf der Straße rumliegt. Die Frage, die sich nach einer Weile dann aber aufdrängt, lautet: wo kommt es denn her, das ästhetische Empfinden, unser Schönheitsgefühl, wenn nicht aus dem Instinkt des Naturerlebens und seiner scheinbar chaotischen Zufälligkeit?

Johannes Kepler sieht darin sogar einen göttlichen Plan, dem die absolute Weltharmonik innewohnt, hochkomplex und bis ins kleinste Detail logisch. Und versteht seine Aufgabe darin, vermittels Messgenauigkeit und Mathematik sich diesem Perfektionswerk zu nähern. Im Vergleich zu Geistes- und Naturwissenschaften sind die Erkenntnisse, die wir Designschaffende aus dem Beobachten und Auswerten unserer Umwelt gewinnen eher banal. Dennoch bieten Kunst oder Design neben okkulter Zahlenmystik auch Fibonacci-Folgen und methodisch-kluge Geometrie. Schließlich braucht auch Wilson Bentley kein Einhorn um eine zauberhafte Geschichte zu erzählen.


Besinnliche Weihnacht und ein glückliches und zufriedenes Neues Jahr 2022!

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