Weihnachtspost mit Briefgeheimnis

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„Mir ist lieber, in einer von Geheimnissen umgebenen
Welt zu leben, als in einer, die so klein ist, dass mein Verstand sie begreift.“

Ralph Waldo Emerson (1803-1882)


Niemand kann die Stille so gefühlvoll festhalten wie Jan Vermeer van Delft. Seine Malerei inszeniert den vollkommenen Augenblick, in dem alles perfekt am richtigen Platz ist. Stimmungsbilder, so unergründlich wie die menschliche Psyche. Die „Frau mit Waage“ ist auf den ersten Blick ein sauber komponiertes Innenleben und bei näherer Betrachtung doch ein Mysterium. Völlig unklar, was sie da eigentlich aufwiegt, vielleicht Perlen oder Goldmünzen. In Wahrheit sieht man auf den feinen, austarierten Waagschalen – eher nichts. Was aber ist nun das bedeutungsvolle Unsichtbare?


Seele und Refugium – ein Bild im Bild

Wenn man an einer Stelle nicht weiterkommt, sucht sich das Auge eine andere. Die Requisiten sind bei Vermeer überschaubar und nie zufällig. Sicherlich sind das geschlossene Fenster und der Spiegel relativ klare Indizien für den Rückzug ins Private und das eigene Ich. Die höchste Instanz vertritt allerdings das Jüngste Gericht. Das Tafelbild im Hintergrund wird in seiner Mitte von der Frau verdeckt, dort, wo mutmaßlich der Erzengel Michael die Seelen wiegt. An dessen Stelle tritt nun die marienhafte, schwangere Patrizierin mit ihrer eigenen Seelenwage, nachdenklich und durchaus selbstbewusst, wie alle Menschen ihrer Zeit im Wesen gottesfürchtig. Kann es nun sein, dass hier ein sehr weltliches Abwägen geschieht, im Dialog mit einer ungeborenen Seele?



Im Grunde geht uns das alles nichts an, denn wir dringen hier in einen intimen Bereich ein, beobachten einen Menschen, der ganz mit sich und seiner Vorstellungswelt allein sein will. Mit einem frommen Gedanken oder Zweifeln, einem glückvollen oder dunklen Geheimnis? Die Botschaft eines Kunstwerks völlig zu entschlüsseln ist weder das Ziel noch der Sinn der Sache. Schließlich geht es hier nicht darum, kodierte Information auf mechanische Art und Weise rückwärts zu lesen. Der Zauber verfliegt, wenn man den Schleier wegreißt. Dieses Bild, auch wenn es heute im Museum hängt, ist nicht öffentlich gemeint, sondern sensibel wie ein persönlicher Brief. Vermeers Werk verlang respektvolle Distanz. Man sollte sich taktvoll darauf einlassen, nicht sofort alles genau wissen wollen – was unserer heutigen Mentalität fremd ist.

Der moderne Mensch mag sich mit Unklarheiten nicht abfinden. Vollkommene Transparenz wird leichthin als Merkmal einer offenen Zivilgesellschaft angesehen. Dabei galt der Aufklärung gerade auch das Recht auf das eigene Geheimnis als Stützpfeiler des freien Geistes. Und das ist der Punkt: In Zeiten von PRISM und Vorratsdatenspeicherung scheint das alles unter die Räder zu kommen. Mindestens genauso penetrant greifen die naiven Weltverbesserer aus dem Silicon Valley nicht nur nach dem Individuum, sondern gleich nach der ganzen Menschheit. Um uns ungeniert wieder zurück in vormoderne Zeiten zu schicken. Denn im Gegensatz zur dogmatischen Kirche drohen Google und Co. ja nicht nur mit ihrer Omnipräsenz, sie sind es tatsächlich. Wohl dem, der seine Privatsphäre einigermaßen zu schützen weiß. Und Friede sei mit uns.


Wir haben unseren Kindern erklärt, worin der Unterschied zwischen schlechten und guten Geheimnissen liegt, dass die schlechten die Seele bedrücken und die guten voller Vorfreude sind. Vermeers Kunst ist immer im guten Sinne geheimnisvoll, da bin ich mir sicher.

Besinnliche Weihnacht und ein glückliches und zufriedenes Neues Jahr 2017!

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