Die Kunst (von der Kunst) zu leben

Vermeer vs Banksy


„Bildende Kunst ist nicht wie andere Kultur, denn ihr Erfolg wird nicht vom Publikum gemacht. Das Publikum füllt jeden Tag Konzertsäle und Kinos, wir lesen millionenfach Romane und kaufen milliardenfach Tonträger. Wir Leute haben Einfluss auf die Entstehung und Qualität des größten Teils unserer Kultur, aber nicht auf unsere Kunst.

Die Kunst, die wir uns ansehen, wird nur von einigen wenigen gemacht. Eine kleine Gruppe schafft, fördert, kauft, stellt aus und entscheidet über den Erfolg der Kunst. Nur ein paar hundert Menschen auf der Welt haben ein wirkliches Mitspracherecht. Wenn Sie eine Kunstgalerie besuchen, sind Sie lediglich ein Tourist, der sich den Trophäenschrank einiger weniger Millionäre ansieht.“ – Banksy, 2005¹


Gemessen an der subtilen Ironie in Banksys künstlerischem Werk wirkt das Zitat recht direkt und zynisch. Dabei stellt sich die Frage, ob er als Künstlertypus seinen Vorwurf widerlegt oder nicht längst bestätigt hat, steht er doch selbst seit Jahren in den Trophäenschränken der Oberschicht – und das in geradezu monumentalem Ausmaß. …

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Anfang und Ende der Welt

Bildquelle Wikimedia Commons


„Das maria gottes můter sey, das gelaub ich nit! sälig sind sy baide on zweifel"
Abschrift aus einem Minnetext, von Clara Hätzlerin, Kalligrafin zu Augsburg (1430-1476)


Schon immer mal wollte ich ein stimmungsvolles, sakrales Weihnachtsmotiv behandeln. Obwohl ich kein gläubiger Mensch bin, auch zur Christnacht nicht in die Kirche gehe, ist mir der liturgische Zauber aus der Kindheit noch bestens vertraut. Nur ist mir eine gesunde Skepsis wichtig und da kommt mir dieses nette Sprüchlein oben ganz recht. Erstaunlich, dass um diese Zeit soviel profane Nüchternheit möglich ist. Wir machen uns ja immer so leicht ein Bild von der Unbedarftheit unserer Vorfahren: ungebildet und fromm. Und womöglich noch in einem kausalen Zusammenhang.

Beides ist bei näherer Betrachtung aber nicht der Fall. Der moderne Mensch, in seiner webbasierten Verschwörungsblödheit, sollte sich da gar nichts einbilden. Beispielsweise hat, im Gegensatz zu heute, die letzten zweitausend Jahre kaum jemand ernsthaft daran geglaubt, dass die Erde flach ist, obwohl das gerne mal so arrogant unterstellt wird.¹ Ein Blick auf die überlieferten Bilder, auch die der christlichen Kunst, hätte genügt um festzustellen, dass es hier jede Menge Globussymbolik wie Reichsäpfel und dergleichen gibt. Die Mondsichel ist zwar stets das Hauptrequisit der Madonna, als Säulenheilige steht sie aber oft genug auch auf einer Weltkugel.

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Vom Zauber der Erkenntnis

Fotovorlage: AdobeStock


„Es gibt nicht eine Welt, es gibt nicht eine Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit ist durchlässig wie eine dünne Eisdecke. Wir können durchrutschen in die Katastrophe oder zu den glücklichen Zwergen, die sozusagen andere Gesetze haben.“ – Alexander Kluge, Filmemacher


Wie man in eine Katastrophe durchrutschen kann, müssen wir hier nicht ergründen. Haben wir die letzten beiden Jahre allesamt, wenn auch individuell sehr verschieden, erleben können. Also gleich weiterschlittern zu den glücklichen Zwergen! Was nun keinesfalls ironisch abwertend gemeint ist, sondern mit allem romantischen Respekt vor Menschen mit einsamer Mission.

Einer dieser bemerkenswerten, stillen und etwas kauzigen Menschen ist Wilson Bentley, ein Farmer aus dem kleinen Örtchen Jericho in den Vereinigten Staaten von Amerika, der schon als junger Mann in seiner Scheune einer seltsamen Leidenschaft nachgeht. Der „Snowflake Man“ beschäftigt sich in seiner gesamten Freizeit mit dem Fotografieren von Schneekristallen, was Ende des 19. Jahrhunderts reichlich schräg und zudem technisch ein Ding der Unmöglichkeit ist. Als es dem 20-jährigen Wilson dann am 15. Januar 1885 zum ersten mal gelingt mit seiner Eigenkonstruktion aus Plattenkamera und Mikroskop ein einzelnes Schneekristall festzuhalten, ist er mit seinen Glücksgefühlen völlig allein auf der Welt. Denn seine sozialen Kontakte sind dürftig – bis auf etwas Klarinette spielen im dörflichen Musikverein – und Schnee an sich ist nicht sonderlich beliebt bei den übrigen Milchbauern.

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Die Freiheit erhellt die Welt ;-)

Foto: AdobeStock


„Manchmal kommt mir in den Sinn / Nach Amerika zu segeln / Nach dem großen Freiheitsstall / Der bewohnt von Gleichheitsflegeln / Doch es ängstet mich ein Land / Wo die Menschen Tabak käuen / Wo sie ohne König kegeln / Wo sie ohne Spucknapf speien …“ – Heinrich Heine, 1851


Liberty Enlightening the World – so lautet der offizielle Titel der Freiheitsstatue auf Liberty Island. Kann man mit „erhellt die Welt“ übersetzen oder auch „erleuchtet“, das gibt im Deutschen nach meine Gefühl den schöneren Doppelsinn. Nicht zu vergessen, dass mit „enlightenment“ natürlich die Aufklärung gemeint ist. Alles passt gut, wenn man fürs neue Jahr seiner Hoffnung Ausdruck verleihen möchte, dass nach den überstandenen vier Jahren American Nightmare unsere Schutzmacht nun langsam wieder zur Besinnung kommt. Noch genau einen Monat Geduld, dann geht das Licht wieder an. So ist mir zum Jahresende nach einer nostalgischen Farbgebung, eine digital nachkolorierte Retrospektive sozusagen, in der die verklärte Vergangenheit ein wohliger Spaziergang ist durch die Bilderwelt einer glückseligen nordatlantischen Bruderschaft.

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Die Navigation der christlichen Seefahrt

Bildquelle Wikimedia Commons (Ausschnitt)


„Große Zeit ist's immer nur, wenn's beinahe schiefgeht, wenn man jeden Augenblick fürchten muß: jetzt ist alles vorbei.“ Theodor Fontane, 1898 – Der Stechlin


Die Seefahrt mit allen ihren Requisiten ist in der Malerei schon immer eine prachtvolle Kulisse für das Abenteuer des Lebens, die Entdeckung und Eroberung der weiten Welt. Das Ganze im Kontext frommer Beständigkeit darzustellen, ist die Motivation des Pieter Brueghel dem Älteren bei einem seiner weniger bekannten Bilder, von dem man nicht mehr sicher ist, ob es sich um ein Original handelt oder eine Werkstattkopie. Was der Pinselführung nach wahrscheinlicher ist. Auch der Titel ist nur unverbindlich überliefert: Landschaft mit dem Sturz des Ikarus – mehr die wage Beschreibung dessen, was man ohnehin sieht. Sofern man genau hinsieht.

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Die Welt von oben gesehen

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„Wenn der liebe Gott sich im Himmel langweilt, dann öffnet er das Fenster und betrachtet die Boulevards von Paris.“ Heinrich Heine, 1832 – für die Augsburger Allgemeine


Der Blick aus dem Fenster auf die Geschäftigkeit der Anderen gehört den Neugierigen, den Tagträumern oder Tagedieben. Es ist die Perspektive des Künstlers, der schon wieder mal vier Stunden später aufgestanden ist als die übrigen Zeitgenossen. So stellt auch Louis Daguerre eines schönen Tages seinen Holzkasten auf die Fensterbank, macht den Objektivdeckel ab und lässt den Dingen seinen Lauf. Dass im Ergebnis, außer den Immobilien, nichts auf der Glasplatte übrig bleibt, ist die eigentliche Ironie der Zeit oder besser der Zeitkonstante. Weniger geheimnisvoll formuliert, es ist die Belichtungszeit, die das Wesentliche verschluckt und das Nebensächliche konserviert. Nur der stoisch vor sich hin werkelnde Schuhputzer und sein geduldiger Kunde werden im Kontinuum eingefangen, alle Anderen sind dem Fotokünstler davongehuscht.

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Die Erreichbarkeit der Himmelskörper

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„We are now approaching the lunar sunrise and for all the people back on earth, the crew of Apollo 8 has a message that we would like to send to you …“ Astronaut Bill Anders, 1968


Wenige Tage bevor sich unsere amerikanischen Freunde am 22. Dezember 1968 auf den Weg zum nächsten Himmelskörper machen, ist ein Programmpunkt der minutiös geplanten Mission immer noch offen. Genau am Heiligabend würde Apollo 8 den Mond umkreisen und eine Liveübertragung soll die Welt „angemessen“ beeindrucken. „Do something appropriate“, so das lakonische Briefing der NASA an die verdutzten Astronauten. Die Crew reicht diese heikle Aufgabe vernünftigerweise gleich an einen Medienprofi weiter, der allerdings seinerseits schlaflose Nächte durchlebt. Bis dessen unbekümmerte Ehefrau die geniale Idee mit der Genesis aus dem Hut zaubert. Darauf muss man erst mal kommen: eine kurze Lesung der Schöpfungsgeschichte beim Umfliegen des Mondes – in der Tat originell zum freien Blick auf den Globus!

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Weihnachtspost mit Briefgeheimnis

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„Mir ist lieber, in einer von Geheimnissen umgebenen
Welt zu leben, als in einer, die so klein ist, dass mein Verstand sie begreift.“

Ralph Waldo Emerson (1803-1882)


Niemand kann die Stille so gefühlvoll festhalten wie Jan Vermeer van Delft. Seine Malerei inszeniert den vollkommenen Augenblick, in dem alles perfekt am richtigen Platz ist. Stimmungsbilder, so unergründlich wie die menschliche Psyche. Die „Frau mit Waage“ ist auf den ersten Blick ein sauber komponiertes Innenleben und bei näherer Betrachtung doch ein Mysterium. Völlig unklar, was sie da eigentlich aufwiegt, vielleicht Perlen oder Goldmünzen. In Wahrheit sieht man auf den feinen, austarierten Waagschalen – eher nichts. Was aber ist nun das bedeutungsvolle Unsichtbare?

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Das Leben, das Universum und der ganze Rest

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„Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, dass man in einer bestimmten Zeit geboren und in ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.“ Daniel Kehlmann – Die Vermessung der Welt


Die wahre Eroberung und Vermessung der Welt beginnt bekanntermaßen mit der Renaissance. Gutenberg und Kolumbus schaffen die Werkzeuge und Grundlagen für ein Zeitalter des Aufbruchs, des Umdenkens, des wissenschaftlichen und künstlerischen Fortschritts. Und mittendrin sitzt Dürers melancholischer Engel, zugestellt mit dem Sammelsurium seines Erkenntnisapparats und scheint für den Moment etwas überfordert, nachdenklich, sich der ungeahnten Vielfalt bewusst, aber im Ergebnis reizüberflutet. „Melencolia I“ – mein Weihnachtsengel.

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Inventur im Club der toten Dichter und Denker

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„Wir haben die Lande gemessen, die Naturkräfte gewogen, die Mittel der Industrie berechnet, und siehe, wir haben ausgefunden: daß diese Erde groß genug ist; daß sie jedem hinlänglich Raum bietet, die Hütte seines Glückes darauf zu bauen; daß diese Erde uns alle anständig ernähren kann, wenn wir alle arbeiten und nicht einer auf Kosten des anderen leben will; und daß wir nicht nötig haben, die größere und ärmere Klasse an den Himmel zu verweisen.“ Heinrich Heine, 1836


Es wird erzählt, man habe die Werke des Aristoteles in der antiken Bibliothek von Rhodos in einer bestimmten Reihenfolge einsortiert: vorne die naturphilosophischen Bücher, dahinter (griechisch „meta“) die über die Physik hinausgehenden Theorien, die man darum fortan „meta ta physika“ nannte. Wer weiß, ob’s stimmt, aber so hatten die Dinge schon mal ihre literarische Grundordnung. Überhaupt: kein schlechtes Bild, sich die Welt als Bibliothek vorzustellen. Ein stetig wachsender, unendlicher Speicher von Beschreibungen, Hypothesen und Beweisführungen, ein Gedächtnis der menschlichen Erfahrung und Erkenntnis. So faszinierend, dass sich mancher gar nicht mehr auf die reale Welt einlassen mag, die im metaphysischen Sinne genauso virtuell ist wie ein Computerspiel – eine Projektion, eine Vorstellungswelt eben.

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