Flatliners – dem Himmel so nah?

Ausschnitt – Bildquelle WikimediaCommons


Als römisch-katholischer Knirps war man gewohnt, an Allerheiligen oder Allerseelen mit der Familie auf den Dorffriedhof zu gehen, stets im Dunkeln, wegen der Lichterromantik, und zudem in Vorfreude auf den heiteren Laternenumzug zwei Wochen später zu St. Martin. Wenn ich heute vom Münchner Westfriedhof komme, dann scheint die Welt doch eher beklemmend und so reproduziere ich ganz gerne etwas von der naiven Nestwärme aus der Kindheit, was immer gut ist für die schwachen Nerven eines lebenserfahrenen Erwachsenen. Der begleitende Atheismus wird daneben zunehmend trostloser und wohl auch darum gibt es in letzter Zeit immer mehr jene publizistischen Versuche, für ein „Leben“ nach dem Tod eine wissenschaftliche Perspektive anzubieten.

Gemeint sind damit die wagen Erkenntnisse aus sogenannten Nahtoderfahrungen, kurz NTE. An sich ist das nichts Neues, aber durch den medizinischen Fortschritt in der Reanimation sind die Fallzahlen sprunghaft angestiegen. Und angesichts der spektakulären Zeugnisse von Betroffenen, die davon berichten, wie es sich anfühlt „wenn man tot ist“, also während gleichzeitig die Intensivmedizin deren klinischen Tod feststellt, steht jetzt die Frage im Raum, inwieweit das menschliche Bewusstsein dazu ein lebendiges Gehirn braucht. Das ist schon gruselig, doch die Zahl derer, die daraus logisch ein menschliches Bewusstsein über den Tod hinaus folgern, ist sehr gering. Wie auch immer, alles, was mit Wahrnehmung, Einbildung oder Imagination zu tun hat, interessiert mich einfach.

In dem Fall habe ich ein nüchternes Interesse an den psychologischen, um nicht zu sagen seelischen Grundlagen. Mir selbst ist eine solche NTE nie passiert, dass muss ich dazusagen, lebensverändernde Momente von biblischem Ausmaß kommen in meine Leben nicht vor. Fest steht, im Allgemeinen reden die Leute nicht gerne über den Tod und wenn man dann beschwichtigend ins Abstrakte ausweicht, weiß keiner mehr, was man da überhaupt für ein Problem hat. Dabei sind der Tod und das Jenseits schon immer starke Motive in der Kunst. Wirkmächtige Bilder eben, nur darum geht's.

Wer aus seinen süßen Träumen erwacht oder gar aus Albträumen aufschreckt, fragt sich vielleicht auch, was das für ein Spektakel war, das einerseits völlig unwirklich ist, andererseits aber doch eine unmittelbare Wirkung auf das Gemüt hat. Das unkontrollierte Hirnfeuerwerk ist dagegen leicht erklärbar, solange dieses Organ noch funktioniert. Ein Problem habe ich, wenn man in Betracht zieht, dass Bewusstsein ganz ohne Gehirn möglich sein könnte. Da die heutige Naturwissenschaft für metaphysische Fragen noch keinen Hebel gefunden hat, geht das spekulativ vorwärts in die Science-Fiction wie bei Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ oder rückwärts ins Spirituelle. Allerdings, für transzendentales Grübeln bin ich eher ungeeignet. Wie gesagt, wenn einem der Kopf schwirrt, dann lieber raus an die frische Luft – mit freiem Blick ins Himmelblau!



Clouds – From Both Sides Now



Himmel und Hölle, das Fegefeuer oder ein Leben im Jenseits – alle spirituellen Genres sind Teil der Kultur- und Kunstgeschichte. Die christlichen Kirchen als Auftraggeber haben hier überdeutlich ihre Spuren hinterlassen. Noch immer denken wir in bildhaften Mustern der letzten tausend Jahre.

Hieronymus Bosch

Der Niederländer malt besonders wirkmächtige Bilder, deren morbide Szenarien noch immer die Alpträume des modernen Menschen bevölkern. Viel zitiert in der zeitgenössischen Plakatkunst und auf diversen Plattencovern zu finden. Eigentlich mag ich diese fiesen Figürchen auf seinen Bildern überhaupt nicht, aber irgendwie bleibt man, womöglich sensationslüstern, daran hängen. Ist es so, dass dieser Mann hellseherische Fähigkeiten hatte, oder umgekehrt, dass er und seine Kolleg*innen unsere Vorstellungskraft so sehr beeinflusst haben, dass wir glauben, es sei unsere eigene?

Und warum nur wird diese Tunnel-Licht-Kombination so oft genannt? Weil so etwas tatsächlich passiert oder weil wir diese ikonografische Präferenz untereinander so beharrlich überliefert haben? Das Tatsächliche mag allenfalls in die Kunst einfließen und damit auch in unsere epigenetische¹ Erbmasse, aber die Wahrheit werden wir nie erfahren! Trotzdem verrückt, ein Maler der Spätgotik malt das Phantombild der Nahtoderfahrung eines gegenwärtigen Unfallopfers.


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¹ Die Epigenetik untersucht, wie Umweltfaktoren und Lebensgewohnheiten, also auch Kunst und Kultur, die Aktivität von Genen beeinflussen, ohne die DNA-Sequenz zu verändern. … Diese Fußnote hatte ich schon in meinem Rhinocerus-Eintrag – ich wiederhole mich gerne: ;-)


Hieronymus Bosch „Aufstieg der Seligen“,
entstanden 1505-1515, Gallerie dell’Accademia, Venedig.
Bildquelle WikimediaCommons


Nulllinie und Traumnovelle – frei erfunden.


„Flatliners“

Der Film aus dem Jahr 1990 mit Julia Roberts und Kiefer Sutherland in den Hauptrollen, handelt von einer Gruppe durchgeknallter Medizinstudenten, die sich reihum in den klinischen Tod befördern und dann wieder reanimieren. Einerseits aus wissenschaftlicher Neugier und andererseits, eben weil sie es können. Das szenische Bild der „Flatline“ oder Nulllinie, im Moment, wo die Hirnströme ohne Ausschläge parallel flache Linien übers Papier zeichnen, ist dann der Start für merkwürdige, düstere oder wehmütige Fantasien, die die Protagonisten mit ihrer Vergangenheit konfrontieren und über die Flashbacks eine handfeste Paranoia auslösen. Fand ich damals sehr spannend und fantasievoll. Die Sache mit dem Lebenspanorama, integraler Bestandteil einer Nahtoderfahrung, wird hier fast vollständig zum Horrortrip. Auch so was kommt vor.

Im „Normalfall“, so die meisten Anekdoten in der einschlägigen Literatur², ist eine Nahtoderfahrung eine glückselige, von allumfassender Liebe erfüllte Reise, und die meisten zeigen sich angeblich ernüchtert, wenn der Arzt sie wieder ins Diesseits zurückholt. Eine NTE scheint also die Angst vor dem Tod zu nehmen. Was auf den ersten Blick beruhigend erscheinen mag, ist für mich die eigentliche Schattenseite. Meiner Meinung nach sind viele Ängste ein wichtiges Korrektiv, weil sie uns einfach vorsichtig sein lassen. Bei einem Menschen mit einer „übersinnlichen“ Nahtoderfahrung kann es vorkommen, dass er eine diffuse Sehnsucht nach diesem entrückten Zustand entwickelt, mit sehr bedenklichen Auswirkungen auf seine Psyche. Dieser Spur gehe ich nach.

Bei allen Spekulationen, die unser Kopfkino in Gang setzen, ist also größte Vorsicht geboten. Der mittelalterliche Mensch mag seine Vorstellungskraft noch mit dem überschaubaren Figurenkabinett beim Kirchgang bedient haben. Unsere heutige Fantasie ist nun derart überbordend von den Medien befeuert, dass wir uns tatsächlich einbilden, ins Jenseits rüberblicken zu können. Das ist albern, denn wie im Traum verarbeiten wir lediglich irgendwelches Hollywood-Gedöns. Mehr wird‘s nicht sein.

Seit Corona bin ich übervorsichtig im Umgang mit seltsamen Ideen. Ob sich durch eine NTE das Fenster in eine andere Welt auftut, soll mir darum fürs Erste egal sein. Schon lästig genug, die Bilder eines Hieronymus Bosch oder Stephen King wieder aus dem Kopf zu kriegen.

Ab und zu ein Gruß zum Himmel, alles andere zu gegebener Zeit.



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² Wolfgang Knüll, „Nahtoderfahrungen, Blick in eine andere Welt“ – Den aktuellen Bestseller zum Thema habe ich aufmerksam gelesen, musste mich aber ständig fragen, ob mir die rein anekdotische Evidenz darin wirklich genügen soll. Die abschließende „Beweisführung“ des Autors vermittels Quantenphysik hat mich mehr irritiert als überzeugt. Hier muss man sich schließlich nicht genieren, wenn man nix kapiert. Eigentlich auch eher ein Esoteriktrick, mal kurz in die Quantenmechanik abzubiegen um Einfaltspinsel wie mich zu verblüffen. Es heißt aber auch, dass die meisten hochklassigen Naturwissenschaftler sich bei der Frage, ob es eine höhere, göttliche Instanz gibt, sehr zurückhalten und lediglich mittelmäßige Philosophen das rigoros abstreiten.



Rückschau 2019:
Das Morbide als künstlerisches Motiv Totentanz in modernen Zeiten